Ein Langstreckenpoem trifft auf Rotationen
Die zugetextet.com Redaktion wurde durch die Ankündigung des Projekts KUNO überrascht, nach dem 25. Jahr sein Erscheinen einzustellen. Diese Institution wird sehr fehlen, wenn die Ankündigung wahr wird.
Wir haben uns daher entschieden, diese Ankündigung nicht nur zu publizieren, sondern sie auch flankierend zu unterstützen, um damit auch unsere Reichweite in den Dienst dieser finalen Aktion zu stellen. Dazu werden wir auf unserem Blog nach und nach die restlichen Edelsteine des berühmten “Schubers” entblättern und vorstellen. KUNO, die Edition Das Labor und der leider viel zu früh verstorbene Autor A.J. Weigoni haben das mehr als nur verdient.
Walther Stonet, Herausgeber.
In 2024 stellt die Edition Das Labor ein nachgelassenes Poem von A.J. Weigoni in 366 Strophen vor.
Diese consolatio poesiae hat keinen Ort, sie wird wahrscheinlich für eine Weile im Datennirvana existieren und irgendwann ganz verschwinden. Poesie ist immer ein Beginnen, Vergehen und Neudenken. Der Kontrast dieser Poesie mit allen beredten Details, trifft auf eine konkrete Alltäglichkeit. Auch in der literarischen Publikation gilt es digitale Transformationsprozesse zu gestalten. Die Publikation dieser Wiederbelebungsmasznahme erfolgt in digitaler Form. Das Erkunden der Textsortengrenze überläßt sich ganz dem Vergehen der Zeit, dieses Langstreckenpoem folgte dem Rhythmus der Sekunden und Minuten, der Tage und Wochen und hat assoziativ Erinnerungen und Begebenheiten aufgegriffen. Es war der Versuch, eine Chronik der Zukunft zu verfassen, ohne dabei die Traditionslinien des stochastischen Schreibens zu verlassen, also nach dem Zufallsprinzip entstandene poetische Strukturen, dem Experiment verhafteten Konstrukt und den Wortfreistellungen zwischen den Zeilen.
Der Leser erlebt in dieser Netzpublikation eine Suspendierung der Gegenstandsbindung. Diese Wiederbelebungsmasznahme der Poesie ist ein Ankommen im offenen. Aus Wörtern werden Sätze. Aus Sätzen sodann Absätze. Hinter den Sprach- und Zeichensetzungsbesonderheiten steckt darüber hinaus noch wesentlich mehr. Indem dadurch ein besonderer Lesefluss erzeugt, fast erzwungen wird, werden Rhythmus und Sprach-(oder Sprech-) Melodie zu wichtigen Textelementen. Texte verwandeln sich zuweilen in Texturen. Poetisches Denken tritt in einen philosophischen Dialog, ohne Philosophie sein zu müssen. Es ist keine Geschichte geplant. Fast jeder Satz bildet einen Absatz, so dass der Erzählfluss immer wieder unterbrochen wird. Die Sprache ist verfremdet, voller Inversionen und Emphasen, aufgeraut, zwingt zum langsamen Lesen und Wieder-Holen.
Täglich werden in 2024 auf Edition Das Labor Wortfeuerwerke gezündet, ob es zu einem Synapsenknall kommt, bleibt des Betrachter des Kalenderblatts überlassen. Diese Wiederbelebungsmasznahme der Poesie ist hat eigentlich keinen Ort, sie ist immer ein Beginnen und Vergehen. Es ist nicht möglich, Poesie in Wörter oder Bilder zu fassen. Sprache und Klänge sind immer nur Behelf. Jeder sagt und sieht etwas anderes, wenn er sich mit Poesie beschäftigt. Poesie ist ausschließlich Musik, bestenfalls mit anderer Poesie vergleichbar. Sollte es gelingen auf dem Umweg eines zwölfstrophigen Monodramas ein Panoptikum der Zeit darzustellen, so ist dies durchaus beabsichtigt; aber nicht geplant.
Der Sitz der Poesie liegt zwischen Immanenz und Transzendenz. Reine Poesie überwindet die Grenzen des Darstellbaren, alle Wege führen ins Nichts. Diese Wiederbelebungsmasznahme entwirft ein Panorama diskursiver Verflechtungen, die einzelnen Passagen sind datiert, sie sind gleichsam eine digitale Version des Abreißkalenders. Die sprachliche Genauigkeit ist schonungslos. Die abgehackten, scheinbar immer wieder steckenbleibenden Sätze des Bewusstseinsstroms machen es dem Leser nicht gerade einfach. Lyrik ist in der kondensierten Form eine Zumutung. Der Leser kann sich im kommenden Jahr an 366 Tagen seinen eigenen Reim darauf machen.
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Wiederbelebungsmasznahme, ein Langstreckenpoem von A.J. Weigoni, Edition Das Labor, 2024
Flankiert wird das Langstreckenpoem durch künstlerische Arbeiten von Haimo Hieronymus. In seinen Rotationen gibt es Zeichnungen von Feldern aus konzentrischen Ringen, die sich bedrängen und verformen. Es ist ein Prozess, der von Weiterungen und Abweichungen bestimmt ist. Es ist ein Beobachten und Skizzieren, der Versuch von der Konstruktion weg und auf das Wesentliche dahinter zu kommen. Manchmal erfassen dicke Striche das Papier, als seien unterschiedlich rotierende expansive Kräfte am Werk, die nach aussen drücken und an die Ränder verschieben. Das Branding von Haimo Hieronymus ist, keines zu haben. Sein verästeltes Lebenswerk entwickelte sich über die Jahrzehnte hinweg zu einer partizipativen, sozialen Plastik.
Weiterführend → Verbunden waren sich die Artisten durch ihre Arbeit an Künstlerbüchern. Vertiefend dazu das Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus über Material, Medium und Faszination des Werkstoffs Papier.
→ Jeder Band aus dem Schuber von A.J. Weigoni ist ein Sammlerobjekt. Und jedes Titelbild ein Kunstwerk. KUNO fasst die Stimmen zu dieser verlegerischen Grosstat zusammen. Last but not least: VerDichtung – Über das Verfertigen von Poesie, ein Essay von A.J. Weigoni in dem er dichtungstheoretisch die poetologischen Grundsätze seines Schaffens beschreibt. Zuletzt bei KUNO, eine Polemik von A.J. Weigoni über den Sinn einer Lesung.