Ein mitreißender Strudel unter scheinbar ruhigem Fahrwasser
Rezension von Oliver Bruskolini
Simone Regina Adams, Flugfedern, Novelle, Klöpfer & Meyer, Tübingen 2018, 1. Auflage, ISBN 978-3-86351-472-3, gebunden, 160 Seiten, 20,00€.
„Der Nashornvogel, das hatte Thibaut schon als kleiner Junge in einem Tierfilm gesehen, sucht für sein Weibchen eine kleine Baumhöhle, in die sie gerade so hineinpasst. Sie reißt sich die Flugfedern aus, die sie in den nächsten Monaten nicht brauchen wird, und polstert damit das Nest aus. Mit Lehm mauert er die Höhle sorgfältig zu, bis auf eine kleine Öffnung, durch die er seinen Kopf stecken kann. Und während sie, sicher, geschützt, ihre Eier legt, bringt er ihr unermüdlich Futter und Wasser, drei Monate lang, bis die jungen geschlüpft und groß genug sind; auch die Flugfedern des Weibchens sind dann nachgewachsen.“
Dieser Absatz findet sich als Auszug zu Beginn und in der Mitte von Simone Regina Adams Novelle Flugfedern wieder. Kein Wunder, fasst er doch das Gefühl, das die Novelle beim Lesen transportiert, so treffend zusammen.
Die Novelle erzählt fragmentarisch das Leben Thibauts. Dabei bilden sich zwei Schwerpunkte des Handlungsstrangs. Zum einen rückt der junge Thibaut in den Fokus, der mit seiner Großmutter auf engstem Raum ein introvertiertes Leben führt und im Anschluss an ein Dorffest die junge Sophie aus einer Vergewaltigung rettet. Er nimmt das Mädchen bei sich auf, verliebt sich in sie und führt eine Beziehung mit ihr, die außerhalb der genormten Vorstellung von Beziehungsmustern verläuft.
Zum anderen wird ein späterer Zeitpunkt in Thibauts Leben fokussiert. Nach einer langen Zeit als Arzt in einer Klinik ist er Therapeut, mit Helene verheiratet und hat eine kleine Tochter. Sein Leben scheint sich reguliert und stabilisiert zu haben. Bis Sophie ihm schreibt, weil sie ihn Treffen möchte. Wissend, dass er eine Entscheidung treffen muss, die seine Zukunft bestimmt, macht er sich auf den Weg zu seiner Jugendliebe.
Es sind verschiedene Aspekte, die Flugfedern lesenswert erscheinen lassen. Besonders das psychologische Profil der beiden Protagonisten wirkt vielschichtig, tiefgreifend und gründlich dargestellt. Auf der einen Seite steht Thibaut, der gleich dem Nashornvogel eine Schutzhöhle um Sophie errichtet, bemüht, sie um jeden Preis zu halten und sesshaft werden zu lassen. Auf der anderen Seite steht Sophie, das Nashornvogelweibchen, das diesen Schutz annimmt, ihn braucht und dennoch nach kurzen Abständen wieder flügge wird. Ein Psychogramm, das an eine typische „Helfer-Syndrom trifft auf Borderliner“-Situation erinnert.
Beim Lesen besteht kein Zweifel, dass Sophie nicht bösartig ist. Es besteht auch kein Zweifel an der Echtheit ihrer Liebe. Die aufgeworfenen Spannungen zwischen ihrem Empfinden und ihrem Handeln, so wie dieselben Ambivalenzen in Thibauts Verhalten kreieren einen starken Realismus, der die gesamte Novelle trägt und eine empathische Identifikation mit den Figuren zulässt.
Neben diesem inhaltlichen Kunstgriff ist auch die sprachliche Gestaltung erwähnenswert, mit der Simone Regina Adams in ihrer Novelle hantiert. Mit einfachen Worten und leicht verständlichen Sätzen gelingt es ihr, komplexe Bilder zu zeichnen, die zu einem vertieften Nachdenken über die Bedeutung der scheinbar schlichten Formulierungen einlädt.
Mit Flugfedern unterstreicht die Autorin, aufgrund welcher Qualität sie mehrere begehrte Stipendien erhalten konnte. Die Novelle ist flüssig zu lesen, aber nicht leicht zu verdauen. Sie gleicht einem Strudel, der an der Wasseroberfläche in seichten Bewegungen kreist, aber schneller und mitreißender wird, je tiefer man darin versinkt.