Ein wahrhaft wildes Leben
Rezension von Walther
Anne Weber, Annette, ein Heldinnenepos, Matthes & Seitz, Berlin 2020, ISBN:978-3-95757-845-7, 208 Seiten, broschiert gebunden mit Schutzumschlag, Preis: 22,00 € (D)
Keine Frage, dass der Deutsche Buchpreis 2020 ein verdienter ist. Ebenso fraglos, dass auch dieser Preis sich in entstehende Linie der Vergabe an experimentelle Literatur einreiht. Das ist keine Kritik. Aber eine bemerkenswerte Tatsache ist es schon.
Warum experimentell? Weil die Autorin ein Werk geschaffen hat, das vieles ist: Gedicht. Biographie. Interview. Historischer Roman mit hohem Tatsachenanteil über ein besonderes Leben. Das der Anne Beaumanoir, geboren im Jahr 1923 in der Bretagne. Wer mehr über sie wissen will, lese das Buch und flankiere es mit dem unten aufgeführten Wikipedia-Eintrag. Ja, das Buch sollte man und frau wirklich lesen.
Es ist, obgleich Lebensbericht, weder dröge noch nüchtern. Die Form, die ein wenig gegen den Inhalt zu laufen scheint, wird sehr schnell irrelevant. Irgendwann versteht man einen möglichen Grund für die Form. Sie liegt vielleicht im Parlando des Texts, in dessen Worten man immer wieder die Heldin selbst sprechen zu hören meint. Ihre Stimme ist erkennbar, sie schwingt mit – auch wenn man nicht weiß, wie sie klingt. Auch dieses Faktum tritt hinter dem zurück, das berichtet wird.
Und was alles in dieses Leben hineinpasst! Zwei Ehen werden genannt und mindestens vier Lieben, die mehr waren als Amouren. Ein Leben in der Bretagne, in Paris, in Marseille, in Lyon, in Tunis, in Algerien, in der Schweiz und wieder in Frankreich. Selbstbestimmt war es, dieses Leben. Selbstgewählt schicksalshaft. So lebt eine Frau nicht, hätte man vor Kurzem noch behauptet. Die Kinder sollen nicht unerwähnt bleiben. Die gibt es auch noch. Sogar ein Leben als Ärztin und Forscherin fand darin Platz.
Aber halt: Jetzt kommen noch zwei Revolutionen dazu, bei denen die Heldin mitwirkte, beide im Widerstand. Eine in Frankreich. Eine im entsteheden Algerien. Die Rettung zweier jüdischer Kinder vor den Schergen der Nazis. Eine Verurteilung zu 10 Jahren Gefängnis und ein langes, für die Beziehung zu den Kindern zu langes, Exil. Bis die Strafe endlich amnestiert wurde.
Nicht nur das Leben der Heldin ist bemerkenswert. Auch das Zustandekommen des Buchs ist es. Und das Schreiben sowie die Form des Texts selbst. Jetzt gilt es nur noch, das, was schön gestalteten Band steht, selber zu lesen. Indem man ihn kauft und zur Hand nimmt. Am besten auch in der Schule, als unterrichtende Verzahnung von Geschichte, Deutsch und Französisch. Als Zeugnis, dass man sich nichts und niemandem beugen muss, wenn man etwas als richtig erkannt hat, und dass Scheitern und Sieg, dass Gutes und Schlechtes untrennbar verwoben sind. Am Ende heißt es: Wagen, das Verlieren und das Gewinnen entscheidet das Leben selbst.
Zum Schluss sei eine Anmerkung gestattet. Wir haben mehrfach bei der Pressestelle des Verlags versucht, um ein Interview mit der Autorin Anne Weber zu erbitten. Nun sind wir uns dessen bewusst, dass unser Projekt keine besondere Rolle im deutschsprachigen Feuilleton spielt. Wir sind daher Absagen gewohnt und haben für sie Verständnis. Wofür wir kein Verständnis haben, ist das schlichte antwortlose Negieren unserer sehr freundlichen Anfragen. Das, liebes Presseteam des Verlags Matthes und Seitz, gehört sich nicht. Und es wirft einen Schatten auf die makellose Bilanz des Verlags. Nicht mehr. Aber eben auch nicht weniger.
Die Redaktion empfiehlt allen am Band Interessierten den Erwerb über den regionalen Buchhandel. Sie unterstützt damit die Aktion zum Erhalt des kleinen Buchhändlers vor Ort unter dem Hashtag #supportyourlocalbookstore. Bitte unterstützen Sie diese Aktion ebenfalls.
Netfinder: https://de.wikipedia.org/wiki/Anne_Beaumanoir