Eine einzigartige Stimme in der deutschsprachigen Gegenwartslyrik
Rezension von Walther
Sigune Schnabel, Spuren vergessener Zweige, Gedichte, Bilder von Simon Lèbe, Geest-Verlag, Vechta 2019, ISBN 978-3-86685-715-5, Taschenbuch, 137 Seiten, € 12,00 [D]
Als der Rezensent die ersten Verse Sigune Schnabels als auswählender Lyrikredakteur der Asphaltspuren las, wusste er bereits, dass diese Autorin jemand ganz Besonderer war. Für ihn war es ausgemacht, dass man und frau von ihr noch mehr hören und lesen würde. So ist es dann auch gekommen. Im Interview mit der Autorin in der kommenden Magazin-Aufgabe, zu dem wir begleitend auch den 3. Lyrikband besprechen werden, der uns seitens ihres Verlags vorliegt, werden wir auch darauf näher zu sprechen kommen.
Wir haben unseren Leser*innen bereits ein ersten Gedicht als Gedicht des Monats Juli 2021 empfohlen, das hier http://www.zugetextet.com/?p=8659 gerne betrachtet werden kann. Es handelt sich um das Werk „Baumhaustage“, das das, was Sigune Schnabels Poesie ausmacht, fast exemplarisch enthält. Dazu gehören:
-
- eine unverwechselbare Sprache, die aus der Zeit gefallen zu sein scheint
- eine fein austarierte Komposition von Bildern und Metaphern, die das Thema ausleuchtet
- eine überraschende Schlusssequenz, die das Nachsinnen nochmals befeuert
Früher war der Charakter ihrer Werke psalmodischer und emphatischer. Diese Anklänge sind nicht verschwunden, sie sind nur gedämpfter und abgeklärter. Manchmal spürt man die durch Lebensalter allen Poeten zuwachsende Lakonie in der Formulierung.
Schneelandschaft
Im Schnee fällt unsere Liebe leiser.
Die Worte bleiben an den Versen hängen
und haften an den Absätzen der Schuhe.
Noch immer schweigt
der Tag Schnee ins Land.
Dieses auf S. 93 abgedruckte Poem zeigt das Konzept der Gedichte exemplarisch nach. Man beachte, dass das klanggleiche „Fersen“ in S1V2 mitschwingt. Es gibt sozusagen den Kontrapunkt dazu und zieht die Verbindung zu den Schuhabsätzen, die S1V2 angesprochen. Wichtig zu beachten, dass auch das Wort Absatz mehrere Bedeutungsebenen ins sich trägt (Absatz im Text, Absatz am Schuh, sich absetzen aus einer Gefahrenlage oder hier vielleicht einer Beziehung). Ja, der Schnee „schweigt“, eigentlich verschweigt er, was er bedeckt und dämpft den Schall.
So gäbe es eine Vielzahl weiterer herausragender Textkleinode in diesem Band zu finden, der aus zwei Gründen besonders heraussticht. Zum einen ist es die Zahl überdurchschnittlicher und erwähnenswerter Gedichte. In dieser Dichte sind sie in einem Gedichtband selten zu finden. Und der Rezensent hat viele davon gelesen und besprochen, sehr viele. Zum anderen ist es die liebevolle grafische Aufbereitung als Kapiteltrenner, die die Überschriften sorgsam mit einem weiteren Denkraum versehen.
Für den Rezensenten ist es ein Rätsel, dass noch kein Gedicht Sigune Schnabels Eingang in die Frankfurter Anthologie gefunden hat und dass sich die Großverlage und das offiziöse Literaturfeuilleton ihrer noch nicht angenommen haben. Verdient hätte sie es allemal, endlich als das erkennt zu werden, was sie tatsächlich ist: eine der bedeutendsten lebenden weiblichen Poetinnen deutscher Sprache. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.