Eine Handvoll Steine

von Finlay Weber

Sie hatten die Abfahrt Bielefeld-Zentrum vor wenigen Augenblicken hinter sich gelassen, und damit Lindas Hoffnung, zumindest einen halbwegs erträglichen Tag serviert zu bekommen. Serviert, das ist das richtige Wort, dachte sie, schließlich war sie nicht nach ihrer Meinung gefragt, sondern regelrecht eingepackt worden. Wie ein Sonnenhut, wie ein Picknickkorb, der selbst in schweigsamen Momenten auf seine Art Rückhalt geben kann.

Es wäre wirklich mal wieder an der Zeit für einen Familienausflug, hatte ihr Vater zu ihrer Mutter gesagt. Er hatte noch versucht, die bleierne Schwere, die auf seine Worte gefolgt war und sich sofort auf die Gemüter übertragen hatte, wegzureden. Es schiene die Sonne. Es stünde doch sonst nichts an.
So redete er sich um Kopf und Kragen und Linda um die klägliche Ansammlung an Verständnis, die sie in den letzten Monaten mühselig für ihn zusammengeklaubt hatte. Emsig wie ein Eichhörnchen auf der Suche nach rettenden Vorräten, so hatte sie seine Sätze auf brauchbare Worte seziert, so viele ignoriert und nach den wenigen Fetzen gegriffen, die sie für ihn verwenden konnte. Damit die Chance bestünde, die unausgesprochene Anklage möge irgendwann fallengelassen werden. Dafür wäre es wirklich an der Zeit, nicht für diesen beschissenen Familienausflug, fluchte sie innerlich und blickte aus dem Fenster. Ein Schild mit der Aufschrift B66 flog vorüber, sie fuhren weiter in östlicher Richtung, ließen die lachende und lockende Stadt hinter sich. Ein kleiner Junge am Straßenrand schien ihnen sogar Adieu zu winken. Wahrscheinlich aber hatte er sie gar nicht bemerkt, sondern hinter sie oder durch sie hindurch gewunken.

Nach einigen Minuten passierten sie das Örtchen Lage, dann folgten sie einer Landstraße. Ein Schild wies das Hermannsdenkmal und die Externsteine aus, doch sie fuhren nicht ab. Als die Anzahl an Häusern immer spärlicher wurde, erblickte Linda ein weiteres Schild am Straßenrand. Ihr Vater ließ es sich nicht nehmen, das darauf ausgewiesene Ziel ihrer Reise freudig hervorzuheben. Für Linda war klar, dass dieser Tag das pure Grauen werden würde. Ruine Falkenburg, las sie, und schon das Lesen des Namens langweilte sie.
»Ein geschichtsträchtiger Ort«, beharrte der Vater, der schon immer ein überdurchschnittliches Interesse für Steine und langweiliges Zeug hatte aufbringen können. Vielleicht klang seine Stimme einen Hauch zu interessiert. Vielleicht versuchte er so, gegen ihre mürrischen Blicke und die ihrer Mutter anzukämpfen.
»Wirklich toll«, sagte Linda und unterdrückte ein Gähnen.
Immerhin spielte das Wetter mit und steuerte seinerseits das einzig Angenehme zum Ausflug bei: sanften Sonnenschein, einen zarten Vorgeschmack auf den Frühling.
Sie parkten etwa einen Kilometer abseits der Ruine. Den Rest würden sie wandern. Linda fragte sich, ob man bei einer Distanz von einem Kilometer wirklich den Begriff wandern benutzen sollte, erinnerte sich jedoch augenblicklich daran, dass ihre Eltern die Messlatte für ihre Ziele noch nie besonders hoch gehängt hatten.

Linda schaute auf ihr Smartphone und überprüfte den Empfang. Wenigstens das ist nicht wie in einem Horrorfilm, dachte sie, und Google beantwortete eine heimlich eingetippte Frage: 30.000 Langweiler verirrten sich jährlich hierher. Das machte, überschlug sie im Kopf, nicht einmal hundert Menschen pro Tag. Umgerechnet auf den Nachmittag gerade einmal eine Handvoll.
Als sie den Blick wandern ließ, stellte sie ohne Überraschung fest: Wir sind diese Handvoll, denn außer ihnen war niemand zu sehen. Sie konnte auch keinen Kiosk entdecken, an dem sie wartend drei Kaffee hätte trinken können, um die Zeit totzuschlagen. Da war nichts Verlockendes. Da waren nur ihre Eltern und ein Haufen Steine. Der Name Burg, wenngleich Burgruine, schien ihr jedenfalls etwas zu hoch gegriffen.
Linda sehnte sich plötzlich nach einem stärker pulsierenden Leben. Der Wunsch überfiel sie ganz urtümlich, als sie kaum vor sich diese Steinanhäufung sah, die dort ruhte, als lauerte sie eigentlich. Linda spürte diese seltsame, monströse Sehnsucht in sich aufsteigen, nachts durch beleuchtete Straßen zu schlendern. Laternenlicht, Neonreklame, verirrte Straßenbahnen oder Nachtbusse. Betrunken zu Fuß vom Club nach Hause tanzen. Nach Hause, in eine WG voller Fremder, die sie nicht mit Intimität und Verpflichtungen bedrohen konnten.
Doch seit Monaten trat sie auf der Stelle, wagte es nicht, auch nur einen Fuß vor den anderen zu setzen. Und so pulsierte das Leben woanders. Ihres war, das erkannte sie, auch wenn sie keinen strengen Maßstab angelegt hatte, ein Artefakt.

Sie folgte ihren Eltern im Abstand weniger Meter. Als sie den ersten Stein betrat, der in ihren Augen zur Burgruine und nicht zum dorthin führenden Weg gehörte, ließ sie ihr Smartphone in die Gesäßtasche ihrer Hose sinken.
Stein.
Stein.
Stein.
Nach wenigen Augenblicken hatte sie sich bereits an all den Steinen, Felsen, Geröllstücken und Sedimenten sattgesehen. Der Eintönigkeit jeden weiteren Steins versuchte sie entgegenzutreten, indem sie ein neues Wort für ihn fand. Bloß gab es wesentlich mehr Steine als Wörter dafür. So blieb ihr nichts anderes übrig, als lustlos hinter ihren Eltern herzuschlendern.

»Die Falkenburg war einst eine Höhenburg und wurde etwa ab 1190 errichtet«, hörte Linda ihren Vater dozieren. Er hielt keine Infobroschüre oder so etwas in seinen Händen, sondern hatte diesen Mist tatsächlich auswendig gelernt. Er wusste all diese Details einfach, und Linda wunderte sich, warum er solche Dinge wusste, nicht jedoch, wie man andere an- und aussprach. »Bernhard II. und dessen Sohn Hermann II. gaben den Bau damals in Auftrag …« Ihr Vater sprach weiter; es kümmerte ihn nicht, ob jemand zuhörte. Das kümmerte hier schon länger keinen mehr. Er warf einfach weiter kauzige Details in den offenen Raum, und manchmal erbarmte sich Lindas Mutter und holten seine Worte dort ab.
Wie jetzt.
»Ach, wirklich?«, fragte sie. Und der Vater nickte und lächelte stolz.

Linda atmete tief. Die Frühlingsluft hier oben war angenehm. Sie war beruhigend, und die Aussicht war herrlich. Also ließ sie ihren Blick in die Ferne gleiten, wo sie so vieles entdecken konnte, das sie reizte. Anders als das, was vor ihr lag. Vor ihr lagen weiterhin nur Steine.
In der Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts habe ein Brand den Zwinger sowie die Haupt- und die Vorburg zerstört. Der Wind trug die Worte ihres Vaters zu ihr herüber; zu ihr, die an der Klippe stand und den Wald zu ihren Füßen nach Wegen absuchte, die sich zwischen den ganzen Bäumen doch irgendwo hindurchschlängeln, kreuzen und abzweigen mussten.
Über ihr flog ein Vogel, eine Möwe vielleicht.
Linda ergriff ein kurzer Schwindel. Sie tastete um sich, fand Halt am kalten Mauergestein, und seufzte.

Viele Bewohner der angrenzenden Orte hätten, vernahm sie weiter, später stetig Stein um Stein von der Burg abgetragen, um sie als Fundament für ihre Häuser zu nutzen. Linda musste grinsen. Sie wusste nicht, weshalb. Doch der Gedanke an Menschen, die die Burg Stein um Stein abtrugen, erheiterte sie irgendwie. Wie Eichhörnchen, kam es ihr wieder in den Sinn, obwohl kein Eichhörnchen von Steinen satt werden konnte.
Endlich beschloss ihr Vater, dass sie genug gesehen hätten. Er wischte sich etwas Schweiß von der Stirn, wandte sich seiner Tochter zu, und deutete in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Linda ging voran, ihre Eltern folgten. Dann drehte sie sich um. Im Licht der Nachmittagssonne konnte sie ihren Vater nur als Kontur ausmachen, sein Gesicht lag ganz im Schatten. Ihre Mutter, die noch einen Blick zurückwarf, war geblendet; sie kniff die Augen zusammen, was ihrem Gesicht einen verhärmten Ausdruck verlieh.
Einer plötzlichen Neugierde nachgebend, suchte Linda den Blick ihres Vaters und fragte: »Papa, was geschieht eigentlich in Zukunft mit der Burg?«
Er zögerte. Vielleicht wog er etwas ab, vielleicht musste er die dazugehörigen Details erst wieder wachrufen und vielleicht hatte sie ihn auch einfach überrumpelt. Dann sagte er, aber er klang nicht mehr ganz so überzeugt: »Andere Burgen werden teilweise wiederaufgebaut. Die Falkenburg nicht. Von ihr soll lediglich das vorhandene Mauerwerk restauriert werden und für die kommende Generation erhalten bleiben.«
Linda antwortete nicht. Schließlich war ihr Vater bereits daran gewöhnt, dass seine im Raum abgestellten Worte nicht zwingend dort abgeholt wurden.

Als ihr Vater losfuhr, warf Linda noch einen Blick zurück auf die Burg, von der nur Ruinen übriggeblieben waren. An der nächsten Tankstelle hielten sie. Linda kaufte sich ein Eis und eine gekühlte Cola. Sie hielt sich die Dose an die Stirn, ließ die Straßenschilder vorüberziehen, und warf ihren Eltern von hinten prüfende, aber nicht länger stechenden Blicke zu. Dafür war sie zu müde, es fiel ihr schwer, sich zu konzentrieren und ihren Blick zu fokussieren.
Ihr Vater saß auf dem Fahrersitz. Ihre Mutter hatte sich auf den Beifahrersitz gekauert, der Tag hatte sie erschöpft, und Linda sah im Spiegel, dass ihr immer wieder die Augen zufielen. Sie selbst saß hinter ihrer Mutter. Nur der Platz an ihrer Seite war leer. Linda fand, dass das Auto auf diese Weise einen asymmetrischen Eindruck machte. Von außen konnte man es nicht erkennen. Von Lindas Position aus, da aber fühlte sich der leere Platz so seltsam an, dass sie nach einigem Zögern schließlich ihre Coladose auf ihn legte, weil ihr sonst nichts einfiel. Auch ihre Augen waren müde. Als Linda sie kaum noch offenhalten konnte, fing ihr Blick plötzlich das Schild ein, das sie lächeln ließ: Bielefeld. Stadtzentrum.

Aber Bielefeld gibt es doch gar nicht, kam es ihr wieder in den Sinn. Sie hatte vor Jahren einmal irgendwo von der Bielefeld-Verschwörung gehört. Sie kicherte kurz und etwas seltsam, dann kam der Schlaf.

One thought on “Eine Handvoll Steine

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert