Einst, als der Winter begann
Heute ist ein grauer Tag. Schon als ich am frühen Morgen den Zug aus Manchester verließ, hatte mich eine dunkle, undurchdringbare Wolkendecke über der Stadt empfangen. London, there you are. Deine Winkel und Ecken haben mich immer mit offenen Armen begrüßt, aber heute fühle ich mich anders, nicht mehr so willkommen. Ich gehe die Eversholt Street entlang und schaue in die vorbeilaufenden Gesichter. Als ich am frühen Morgen die Nachricht vom Ausstieg Großbritanniens aus der Europäischen Union durch das Radio hörte, war das wie ein Schlag ins Gesicht. Wir wollen euch nicht. Wir brauchen euch nicht. Ihr gehört hier nicht her. Diese Stimmen haben zwar schon vorher existiert, aber nun sind sie zum Manifest dieses Landes geworden. Ich schaue auf die Uhr. Noch habe ich etwas Zeit um zu sehen, ob sich etwas verändert hat. Die Straßen, Plätze und Häuser sind zwar dieselben. Die Autos, Stimmen und Schritte schließen sich zu dem gleichen einheitlichen Geräusch zusammen. Doch der Klang Londons ist in meinen Ohren matt geworden und, wo ich sonst Farben sah, sehe ich nun grau. Wie im Winter, dessen Freund ich niemals sein werde, wirkt alles trist und kühl.
Der Strom der Menschen um mich herum verdichtet sich. Nur schwer komme ich voran. Ständig weiche ich Passanten aus, die sich mir in den Weg zu stellen scheinen. Einmal rammt mich die Schulter eines Mannes in Nadelstreifenanzug.
„Was willst du hier?“, scheint mir sein Blick zu sagen. „Du bist keiner von uns.“
Meine Brust fühlt sich plötzlich seltsam eng an und ich suche automatisch nach einem Fluchtweg. Mitten in der Masse der Metropole fühle ich mich wie ein Verstoßener.
Mit gesenktem Blick steuere ich in Richtung Phoenix Road, wo Jurek in seinem Taxi auf mich warten will. Als er mich vor einigen Monaten das erste Mal nach London einlud, saßen wir lediglich in seiner kleinen Wohnung in Ealing. Mittlerweile ist es jedoch zur Gewohnheit geworden, dass er mir bei meinen seltenen Besuchen die verborgenen Seiten Londons zeigt, wir ziellos durch die Straßen fahren, während sich das Auto langsam mit den Erzählungen eines Mannes füllt, der einst im Winter sein Land verließ und sich dieselben Fragen stellte, wie ich jetzt. Kann ich das hier schaffen? Will ich das hier schaffen? Trotz des Gegenwinds?
Ich überquere eine Kreuzung und sehe Jurek an seinem Taxi stehen. Sein weises Gesicht, die väterlichen Augen hatten mir gefehlt. Er kommt mir ein Stück entgegen und wir begrüßen uns mit einer kurzen, festen Umarmung.
„Hallo, Junge.“, sagt er und ich lächle schwach. Es fängt an zu tröpfeln, als wir beide in das Auto steigen.
„Schlechte Laune, Kamil?“, fragt er mich, erwartet aber keine Antwort. Er weiß wohl, was ich denke.
„Wir sind raus, Jurek“, sage ich nach einer Weile und wundere mich selbst über den Unglauben in meiner Stimme.
„Ist das das Ende?“
Die Stadt bewegt sich bereits an uns vorbei und ich schaue nach draußen. Ich sehe die Menschen, doch dieses Mal können sie mich nicht sehen. Hier bin ich sicher, sicher vor der Kälte, die mich da draußen erwartet.
„Es ist nicht das Ende.“, antwortet Jurek.
„Aber vielleicht der Anfang davon. Der Beginn einer humanen Eiszeit. Oder wir sind schon mitten drin. Ich weiß es nicht.“
Die Stadt ertrinkt im Regen, und ich kann nichts mehr klar erkennen. Wir reden über das Geschehene, die Kriege und die Fluchten auf dieser Welt, über die Heimatlosigkeit, die in meinen Augen niemals enden wird. Denn die Herzen der Menschen werden immer kälter. Die Gemeinschaft stirbt.
„Du weißt, dass der Transporter uns, als ich damals aus Polen kam, über drei Grenzen gefahren hat.“, fängt Jurek an.
„Das war das erste Mal, dass ich unsere Heimat verlassen habe und ich hatte verdammte Angst. Ich weiß noch, wie ich da saß und ins Leere gestarrt habe. Natürlich hätte ich mich freuen können. Endlich auf den Weg in ein besseres Leben, eine richtige Chance. Aber das alles war damals noch nicht greifbar. Es war als wäre ich in einer Art Schwebezustand: Nicht hier und nicht dort. Irgendwann hat mir dann die Frau neben mir die Hand auf die Schulter gelegt und gesagt, ich solle mal nach draußen schauen. » Schau «, hat sie gesagt. » Siehst du das? Es ist Winter und überall liegt Schnee. Egal in welchem Land wir sind. Alles ist weiß und glitzert. « Dann hat die alte Frau gelächelt.» Das ist der wahre Zauber. Die Natur behandelt uns alle gleich. Und nach dem Winter kommt der Frühling.«“
Jurek hält an einer Ampel und sieht mich an.
„Das hat mich irgendwie getröstet“, fährt er fort. „Daran konnte ich mich festhalten. Ich will dir nicht sagen, dass du die Welt mit völlig anderen Augen sehen sollst. Ich sage nur: Verlier nicht das Vertrauen, Kamil. Es wird immer Enttäuschungen geben. Es wird immer wärmere und kältere Winter geben. Ja, vielleicht hört der Winter auch nicht mehr auf. Aber im Grunde hängt alles davon ab, wie du die Welt siehst und was du daraus machst.“
Seine Worte verhallen im Geräusch des Regens, der auf die Frontscheibe prasselt. Für eine Weile sagen wir beide nichts. Später lässt Jurek mich dann in der Nähe der Londoner Innenstadt raus. Er weiß, dass ich das jetzt brauche. London, die Stadt, die ich immer als weltoffen empfunden hatte, von der ich träumte und der ich hier in Gedanken stets meine Träume offenbarte, erscheint mir nun fremd. Und doch will ich diese Bitterkeit in mir nicht akzeptieren. Ich schließe mich dem Strom der Menschen an, versinke darin und hoffe den altgewohnten Einklang doch wieder zu spüren. Hier sind alle gleich, war immer mein Gedanke gewesen. Wir sind Vorbeilaufende, deren Blicke sich in flüchtigen Momenten treffen aber nicht verharren.
Denn alle haben ein Ziel: Irgendwo ankommen.
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