Erlebnisbericht: Die Sache mit dem Erwachsenwerden

Erlebnisbericht: Die Sache mit dem Erwachsenwerden

von Mareike Schmitt

Mist, mein Lieblingshemd ist noch in der Wäsche. Naja, dann ziehe ich eben das neue Teil an, das ich beim letzten Shoppen gefunden habe. Wie sieht mein Gesicht aus, kann ich mich so der Welt zeigen? Ja, ich bin zufrieden.
Immerhin haben mir die Jungs schon bestätigt, dass ich „ganz süß“ bin. Ich bin zufrieden mit mir. Attraktiv sein, das Leben genießen, das will ich. Wie jeder andere in meinem Alter. Alle sagen immer, dass es uns extrem gut geht. Wir haben, was wir wollen, können in den Urlaub fahren, uns das neueste Handy und angesagte Kleidung kaufen, haben viele Möglichkeiten, die Freizeit zu füllen, indem wir Sport treiben, ein Instrument oder Sprachen lernen. Oder einfach nur aufnehmen, was die Kultur uns bietet. Wir können kochen, was immer wir wollen – jede Zutat ist irgendwo aufzutreiben. Unterhaltung und Mode richten sich nach unseren Wünschen. Oder richten wir uns doch nach deren Vorgaben? Manchmal bin ich mir da nicht so sicher.

Uns geht es gut. Unsere Eltern sind ganz ok. Sie kümmern sich auch darum, dass wir mithalten können. Wir dürfen unsere Ansprüche stellen. Die Welt gehört uns, steht uns offen. Wir sind die Generation Fräulein-Wunder, die große Gruppe an Hochbegabten. Wir müssen nur da sein, dann loben uns schon alle. Will ich überhaupt erwachsen werden? Eigentlich habe ich gar nichts dagegen, erwachsen zu werden. Vorausgesetzt, es bleibt so gut wie jetzt. Ich bin da ziemlich optimistisch. Ja, uns steht die Welt offen.
Manchmal sehe ich Nachrichten. Und dann frage ich mich, welche Welt das ist, die uns da offen steht. Wir erben riesige Schuldenberge, überall ist die Infrastruktur marode. Die Umwelt ist kaputt, es gibt Altlastenprobleme, ein Endlager für hochproblematischen Müll fehlt. In vielen Regionen gibt es Kriege … das ist unser Erbe.
Uns steht die Welt offen? Ich habe eher das Gefühl, dass niemand einen Plan hat. Und damit wir uns nicht so hilflos vorkommen, werden wir hochgelobt. Später sollen wir als Erwachsene alles managen. Weil vor uns das niemand geschafft hat.

Unsere Urgroßeltern haben gehorcht, unsere Großeltern haben überlebt, unsere Eltern haben angefangen zu leben, ohne wirklich zu rebellieren. Wir haben brav unser Erbe angetreten, weil wir von unseren Großeltern und Eltern leben. Sie vererben uns ihren Wohlstand. Immer soll es die nächste Generation noch besser haben.
Wann geht es nicht mehr besser? Ab wann hat es die nächste Generation nicht mehr besser, sondern schlechter? Oder kann das „Besser“ endlos gesteigert werden?
Oft habe ich gesagt bekommen: „Du musst keine Verantwortung übernehmen, du bist doch noch ein Kind.“ Aber übernehmen denn die Erwachsenen Verantwortung?
Noch nie habe ich gesehen, dass irgendjemand für irgendetwas Verantwortung übernommen hat, was er tatsächlich zu verantworten hätte. Ich habe aber schon oft erlebt, dass jemand Verantwortung für etwas übernehmen musste, wofür er gar nichts kann, was sich ihm komplett entzieht. Nur, weil jemand, der am längeren Hebel sitzt, bestimmt, wer wofür die Verantwortung zu tragen hat. Manchmal müssen eben Köpfe rollen. Auch wenn es die falschen Köpfe sind.

Und wie ist das mit unserer Geschichte? Immer wieder kauen wir in der Schule die letzten Diktaturen durch. Ja, es ist schrecklich, was im zweiten Weltkrieg geschehen ist. Ja, es ist schlimm, welche Verbrechen in der DDR begangen wurden. Das darf alles nicht vergessen werden. Und nie wieder darf so etwas passieren.
Aber, bitte, was hat das mit mir zu tun? Ich war ein kleines Kind, als die DDR beendet wurde, und war noch nicht einmal entstanden, als der zweite Weltkrieg und die Nachkriegszeit vorbei waren. Ich will die jüngste Geschichte kennen, wie ich Cäsar und Karl den Großen kenne, aber ich will nicht verantwortlich sein müssen für etwas, was ich nicht verbrochen habe. Das ist doch auch wieder nur, weil noch niemand wirklich Verantwortung für das Geschehene übernommen hat. Wird darum verzweifelt ein schwarzes Schaf für unsere Geschichte gesucht?
Es geht offensichtlich im Leben nicht darum, Verantwortung zu übernehmen. Auch in diesem Punkt spielen wir unsere Rolle also bestens. Wir leben, genießen, feiern, ohne Verantwortung zu tragen. Natürlich arbeiten wir auch. Wenn uns etwas nicht gefällt, protestieren wir ein bisschen und handeln dann den bestmöglichen Gewinn für uns aus. Es ist so oder so nicht durchschaubar, nach welchem Prinzip etwas verteilt wird. Nach Leistung und Können geht es nicht, das steht schon mal fest.
Dass auf dem Türschild „Nageldiseinerin“ steht, stört niemanden. Mit der Rechtschreibung und der Kommasetzung kennt sich auch niemand mehr so richtig aus. Ein bisschen Toleranz muss schließlich sein. Und es muss schließlich nicht jeder alles können.

Manchmal habe ich den Eindruck, dass es mehr darauf ankommt, so zu tun als ob. Aber was soll‘s schon, alle machen ja mit. Gut, es kommt gewaltig auf die Noten an, die wir haben. Aber wie werden die Noten vergeben? Wie werden Leistungen beurteilt? Jedenfalls nicht nach Können und Wissen. Wer am lautesten schreit, bekommt die besten Noten. Oder die Eltern stehen auf der Matte und handeln für ihre Kinder bessere Noten aus. Die Bewertung ist undurchschaubar und wenig nachvollziehbar.
So wenig ich den Eindruck habe, dass es um Können und Wissen geht, so sehr fühle ich mich beobachtet. Ich denke, mein Verhalten wird am meisten beurteilt. Wird denn tatsächlich von mir erwartet, dass ich immer ruhig, freundlich und souverän bin? Dass ich immer gelassen reagiere, wenn alles gleichzeitig auf mich hereinbricht? Dass ich jeden Konflikt lächelnd löse?
Irgendwie werde ich den Verdacht nicht los, dass es mehr genau darum geht als um Können und Wissen. Ist ja auch irgendwie logisch: Das Wissen verändert sich so schnell. Ständig gibt es neue Forschungsergebnisse, die altes Wissen ersetzen. Wozu sollen wir denn da noch etwas wissen? Es ist doch bald nicht mehr gültig?

Wissenschaften sind also nicht mehr erstrebenswert. Zu kurzlebig. Vielleicht wissen auch viele Menschen einfach nicht mehr viel. Es bleibt bei dem ganzen Termindruck, den wir alle von Kindheit an haben, schließlich kaum Zeit, wirklich Wissen anzusammeln. Gibt es darum so etwas wie postfaktisches Wissen? Oder wie es jetzt auch heißt: alternative Fakten? Wir schaffen uns unser Wissen selbst. Ob das logisch schlüssig und korrekt ist, ist etwas anderes. Wir wissen jedenfalls etwas. Heißt es nicht, dass Wissen Macht ist? Macht wollen wir alle. Und wenn wir keine Zeit mehr haben, uns mit Wissenschaften zu beschäftigen, dann schaffen wir eben unser ganz eigenes Wissen. Postfaktisch. Basierend auf alternativen Fakten.
Fehlende Zeit, ja, das ist auch so ein Stichwort. Denn was mich tatsächlich richtig belastet, ist der Termindruck, den ich habe. Seit ich klein bin, löst ein Termin den anderen ab. Sport, Musikunterricht, Sprachkurse, Tanzen und und und. Meine Freunde will ich ja auch irgendwann mal sehen und etwas mit ihnen unternehmen. Und die Schule zieht sich gewaltig in den Nachmittag. Und da soll noch Zeit sein für Hausaufgaben und Lernen?

Wir müssen leistungsfähig sein, wünschen sich meine Eltern. Aber leistungsfähig wozu? Für eine Zukunft ohne Perspektiven? Was ist denn unsere Zukunft? Will ich wirklich erwachsen werden? Will ich wirklich leistungsfähig sein, immer nur von Termin zu Termin hetzen, ohne wirklich etwas zu leisten? Ist das tatsächlich Leistungsfähigkeit, von einem Termin zum nächsten zu gehen, aus einem Meeting in das nächste zu wechseln? Alles wird tausendfach durchgesprochen. Vorbereitung ist also nicht notwendig, es wird ja alles im Termin, im Meeting gesagt. Und das soll Leistung sein? Will ich wirklich erwachsen werden?

Aber sind denn die Erwachsenen wirklich erwachsen? Was heißt Erwachsensein denn? Das mit den Rechten und Pflichten lassen wir mal gleich beiseite. So konsequent wird das ja auch nicht durchgezogen. Mir scheint, niemand hat wirklich einen Plan, niemand weiß, was zu tun ist. Oder ist nur niemand bereit, seine Privilegien aufzugeben, von seinem Wohlstand und seiner Bequemlichkeit etwas abzugeben?
Erwachsene werden nicht mehr gelobt. Wenn ich erwachsen bin, ist Schluss mit Fräulein-Wunder und hochbegabt. Dann bin ich nur noch einer von vielen und nur noch das, was ich selbst aus mir mache. Und habe dann genauso wenig einen Plan wie meine Eltern und Großeltern. Wenn ich Kinder habe, werde ich versuchen, für sie das Beste auszuhandeln. Was das Beste ist? Wohlstand, ein angenehmes Leben mit Abwechslung. Ein ständiger Kreislauf. Gibt es denn gar keine Möglichkeit, das Hamsterrad anzuhalten? Will ich wirklich erwachsen werden?

Aber nein, ich will mich gar nicht beschweren, es geht mir ja wirklich gut. Wir haben alles, was wir uns wünschen, wir dürfen unsere Ansprüche stellen und werden noch gelobt. Von den ewig auf die schlimme Jugend Schimpfenden mal abgesehen, die gibt es immer und überall. Ja, es geht uns gut. Ich habe nur so meine leisen Zweifel, ob das so bleiben wird. Vielleicht gelingt es uns, über alle Schwierigkeiten mit Altlasten, Schuldenbergen, Umweltproblemen und Kriegen hinweg uns ein gutes Leben einzurichten. Und wenn wir uns dann ein bisschen sozial geben und immer mal wieder etwas spenden, dann fällt nicht auf, dass wir dabei über Leichen gehen.

Jetzt bin ich fast deprimiert. Ich muss ganz schnell für Ablenkung sorgen. Am besten treffe ich mich gleich mit meinem Freund. Gehört das nicht auch zu uns noch nicht Erwachsenen, die junge Liebe? Unbeschwert genießen, ohne Verantwortung übernehmen zu müssen? Ich weiß, dass ich später alles gut managen kann. So wie meine Eltern und meine Großeltern. Aber ich möchte noch lange nicht erwachsen sein. Und wer weiß, vielleicht entdeckt doch irgendwann mal jemand das Elixier für die ewige Jugend?

 

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