Es ist Zeit, die finnische Literatur zu entdecken! – Teil 1
Essay von Alena Vogel
Spannungsliteratur aus Norwegen, Schweden und Dänemark ist ein absoluter Dauerbrenner, aber kaum jemand kennt finnische Literatur. Schade eigentlich, denn man verpasst so einiges!
Zunächst einmal muss man vorwegschicken, dass Literatur in Finnland hauptsächlich in zwei Sprachen verfasst wird, die noch dazu nicht miteinander verwandt sind: Finnisch und Schwedisch. Dabei ist die finnischsprachige Literatur die deutlich jüngere: Die Anfänge der finnischen Schriftsprache liegen nämlich erst im 16. Jahrhundert! Das liegt u.a. daran, dass Finnland jahrhundertelang zu Schweden gehörte – vom Spätmittelalter bis Anfang des 19. Jahrhunderts! Anschließend stand es noch einmal etwa 100 Jahre lang unter russischer Herrschaft, bevor es 1917 seine Unabhängigkeit erlangte. Unter schwedischer Krone war Schwedisch natürlich offizielle Regierungs-, Kultur- und somit auch Literatursprache. Finnisch hingegen war die Sprache des einfachen Volkes. Erst 1902 wurde es neben Schwedisch gleichberechtigte Amtssprache. Heute sprechen ca. 5% der finnischen Bevölkerung Schwedisch als Muttersprache und switchen dabei im Alltag gekonnt – und teilweise mitten im Satz – zwischen den beiden Landessprachen hin und her. Schwedischsprachige Romane bekannter Autor*innen erscheinen i.d.R. sogar zeitgleich auf Schwedisch und in finnischer Übersetzung.
In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in der Zeit der erwachenden finnischen Nationalromantik bzw. Fennophilie, sammelte Elias Lönnrot bis dahin mündlich überlieferte finnisch-karelische Volksdichtung und stellte daraus das Nationalepos Kalevala zusammen, das einen Weltentstehungsmythos mit Einflüssen aus Osteuropa und Nordasien enthält und dem ein schamanistisches Weltbild zugrunde liegt. Tatsächlich war das Kalevala (in der Übersetzung von Lore und Hans Fromm) Anfang der 2000er Jahre mein allererster Kontakt mit finnischer Literatur. Ich hatte nach Büchern aus Finnland gegoogelt und das war damals einer der wenigen Treffer. Hätte ich gewusst, dass dieser dicke Wälzer komplett in Versform geschrieben ist, hätte ich es mir vielleicht noch einmal überlegt. Zum Glück gab es am Ende der Ausgabe für jeden der Gesänge eine kurze Zusammenfassung in Prosa.
Das sogenannte Kalevala-Versmaß unterscheidet sich von den typischen Versmaßen indoeuropäischer Sprachen und wird auch heute noch gerne in der finnischen Volksmusik verwendet. Jeder Vers besteht aus vier Trochäen (acht Silben), welche im ostseefinnischen Sprachraum traditionell gesungen und von einer Kantele (finn. Saiteninstrument) begleitet wurden. Bis heute dienen Motive aus dem Kalevala als Inspirationsquelle für alle Bereiche der Kunst – und für Firmen- und sogar Banknamen!
Erst 1870 erschien dann der erste – und bis heute sehr bedeutende – Roman in finnischer Sprache: Die sieben Brüder von Aleksis Kivi. Im 20. Jahrhundert folgten weitere Klassiker wie das über 1000 Seiten starke Im Saal von Alastalo von Volter Kilpi (kürzlich übersetzt von Stefan Moster und mit dem Braem-Übersetzerpreis ausgezeichnet), Kreuze in Karelien von Väinö Linna über den sog. Fortsetzungskrieg 1941-44 oder Sinuhe der Ägypter von Mika Waltari, der sogar in Hollywood verfilmt wurde.
Angesichts dieser kurzen Zeitspanne ist es mehr als beeindruckend, welche rasante Entwicklung die finnische Literatur genommen hat und was sie heute zu bieten hat. In Finnland wird zudem verhältnismäßig viel Literatur pro Kopf produziert. Im europäischen Vergleich wird überdurchschnittlich viel gelesen und jedes Jahr wird eine große Zahl an Literaturpreisen vergeben. Anders als bei uns ist auch das Ausleihen in Bibliotheken nach wie vor sehr beliebt. In den letzten Jahren hat aber vor allem die Nutzung von Hörbüchern über verschiedene Streamingdienste stark zugenommen.
Heute ist die finnische Literatur vor allem für ihren skurrilen und ungewöhnlichen Humor bekannt. Dafür wurde sogar ein eigener Genrebegriff geprägt: Finnish weird. Der mittlerweile verstorbene Arto Paasilinna ist wahrscheinlich einigen ein Begriff, aber neben ihm gibt es noch eine ganze Bandbreite an Autor*innen, die sich in ihrem Schreiben unkonventioneller Motive, Genremixturen und Stile bedienen. Ein gutes Beispiel ist der kürzlich erschienene Roman Der Fluch des Hechts von Juhani Karila (übersetzt von Maximilian Murmann): ein Mix aus magischem Realismus, Krimi, Liebesgeschichte und folkloristischen Elementen. Der Roman spielt in Lappland, im Norden Finnlands, wo völlig andere Naturgesetze zu herrschen scheinen als im Rest des Landes. Auf dem Weg dorthin muss die Protagonistin eine Schranke passieren, an der man gewarnt wird, nicht weiterzufahren, weil sonst alle Versicherungen ihre Gültigkeit verlören und der finnische Staat keinerlei Verantwortung mehr übernehme. Auf der anderen Seite der Schranke beherrschen auf einmal magische Geschöpfe den Alltag – was gar nicht so ungefährlich ist. Da gibt es die sogenannten Hattaras, die in Menschen fahren und diese fremdsteuern können, die Pejoonis, die gerne Menschen imitieren und sie dabei auch schon mal versehentlich töten, die Rabatze, die sich in Gärten einnisten und nebenbei Elche erlegen, und vieles mehr. Typisch finnisch ist, dass sich das Skurrile mit dem Alltäglichen vermischt und die Romanfiguren sich über all die Absurditäten überhaupt nicht zu wundern scheinen. Für sie ist es das Normalste auf der Welt, wenn plötzlich ein Pejooni in der Küche steht und angeln gehen will, oder ein Hattara in den Bürgermeister fährt, woraufhin dieser einen gigantischen Fressanfall bekommt. Der skurrile Kontrast zwischen der unbezwingbaren, wilden, magischen Natur und dem nüchternen Alltag der Menschen wird durch den ländlichen Dialekt, den die Figuren sprechen, noch verstärkt.
Weitere Beispiele für Finnish weird sind z.B. Helena Waris, Emmi Itäranta oder Johanna Sinisalo. Sie alle wurden bereits ins Deutsche übersetzt und greifen gerne auf mythologische Elemente zurück. So beschreibt Johanna Sinisalo in Finnisches Feuer (übersetzt von Stefan Moster) ein dystopisches Finnland der Zukunft, einen Überwachungsstaat, in dem Chili als Droge auf dem Schwarzmarkt gehandelt wird und Frauen in Femi- und Neutri-Kategorien eingeteilt werden. Fiktive Zeitungsartikel, Lexikoneinträge und Briefe verleihen dem Ganzen dabei eine realistische Note und erschweren – wie so oft bei Finnish weird – die Einordnung in ein klares Hauptgenre.
Finnische Mythologie wird aber auch z.B. in Kinder- und Jugendbüchern häufig verwendet. So setzt beispielsweise Timo Parvela, der in Deutschland v.a. für seine Ella-Reihe (übersetzt von Elina Kritzokat) bekannt ist, in seiner Kinderbuchtrilogie Sammon vartijat (‘Die Wächter des Sampo‘, leider nicht übersetzt) die Geschichte des Kalevala dort fort, wo sie im Originalepos endet.
Fortsetzung Teil 2: https://www.zugetextet.com/es-ist-zeit-die-finnische-literatur-zu-entdecken-teil-2/
Mit diesem Essay stellt sich unsere neue Redakteurin Alena Vogel vor,
von der wir bald mehr erfahren und mehr lesen werden!
Herausgeber und Redaktion zugetextet.com!