Es reicht! (ein)
Es reicht! (ein)
von Dominik Leitner
Ich hasse mich.
Ich hasse mich, weil ich schon wieder zu sehr auf die Deadline geblickt habe, und nicht auf die lebendigen Tage davor.
Jetzt muss es raus, muss rein, muss eingereicht werden, sonst ist es zu spät.
Sonst wird die Todeslinie überschritten.
Kein Zurück mehr.
Noch fünfzehn Minuten.
Und wieder einmal falte ich jetzt einen Text zusammen, um ihn einer förmlichen Mail anzuhängen, den ich wirklich gut finde, richtig gelungen, unterhaltsam und zum Nachdenken. Aber irgendetwas fehlt. Irgendetwas fehlt doch immer. Dieses i-Tüpfelchen, dass mir wahrscheinlich einfach so in den Schoß gefallen wäre, hätte ich nur etwas mehr Zeit gehabt. Jetzt muss ich darauf verzichten und hoffen, dass die Verantwortlichen ebenfalls erst recht spät daran denken, die eingereichten Texte zu sortieren und zu bewerten. „Unaufmerksamkeit rettet Einreichende“, sage ich immer, oder vielleicht auch gerade zum ersten Mal.
Manchmal denke ich nach; denke darüber nach, wie es wohl wäre, wenn ich nur könnte. Was für Texte entstehen würden, wenn ich die Fähigkeit besäße, mich längere Zeit mit einer Geschichte beschäftigen zu können. Aber so funktioniere ich nicht: Zuerst schreibe ich und schreibe ich, dann lese ich und lese ich, und dann bin ich meistens schon zufrieden. Und wenn nicht, wird gleich im Anschluss noch etwas daran herumgefeilt, und dann ist der Text fertig.
Selbst wenn ich irgendwann einmal früher dran bin und den Text Wochen, nachdem ich ihn geschrieben habe, noch einmal auf meinen Bildschirm hole, werde ich zufrieden sein. Manchmal beneide ich die Menschen, die mit einem Entwurf beginnen und ihn hunderte Male noch überarbeiten, bis sie einen Diamanten daraus geschliffen haben, mit einnehmenden Bildern und einem Gefühl für die Sprache, die mir wohl immer fehlen wird.
Ich schweife ab.
Noch zehn Minuten.
Kaffee um diese Uhrzeit ist keine Lösung, aber vermutlich auch nicht mein Problem. Ich muss es noch schaffen, muss mein Ziel erreichen, eines dieser hunderten Miniziele, muss das Häkchen in meiner digitalen ToDo-Liste anklicken, bevor die Frist vorüber ist. Das bin ich mir schuldig, will ich es doch endlich schaffen, will ich doch weiterkommen im Schreiben, in meinen Träumen und meiner Leidenschaft. Der Kaffee schmeckt bitter. Vielleicht ist Kaffee um diese Uhrzeit doch das Problem.
Meistens stelle ich es mir dann vor, wie es sein wird. Wenn die erlösende E-Mail endlich kommt und aus der Einreichung ein gehefteter Output wird. Ich stelle mir vor, wie ich in verrauchten Hinterstübchen literarischer Alt-Wiener-Cafés sitze und meinen Text zum ersten Mal vor Publikum vorlese und mir für fünf Minuten die ganze Aufmerksamkeit gehört. Weil ich es geschafft habe, andere zu überzeugen, weil meine Worte endlich auch abgedruckt zu finden sind und weil es endlich Zeit geworden ist, dass es passiert; weil ja alles hier nur eine Frage der Zeit ist.
Ich lese mir noch einmal die Aufgabenstellung durch, um auch ja nichts falsch verstanden zu haben. Meine ersten Tränen in meiner Schulzeit wegen einer schlechten Note habe ich damals wegen Deutsch geweint. Weil meine Geschichte so wunderbar, aber doch so fern des vorgeschriebenen Themas war. Mit elf Jahren wurde also meine Fantasie das erste Mal beschränkt. Seitdem versuche ich sie wieder in die freie Wildbahn zu entlassen.
Meistens vergebens.
Manchmal auch nicht.
Scheiße.
Nur noch fünf Minuten.
Ich überfliege die hingerotzten Zeilen, und ja, verdammt, auch wenn es wieder einmal nur Rotzzeilen sind – sie gefallen mir. Hier noch einen Beistrich einfügen, da noch einen falschen Buchstaben austauschen und speichern. Ein abschließendes *.docx dahinter setzen, im Mailprogramm die bereits vorgeschriebene Mail öffnen. Das Dokument reinziehen, die förmliche Anrede noch einmal durchlesen und dann: Whoosh. Der digitale Papierflieger macht sich auf den Weg.
Durchatmen.
Zwei Minuten vor Deadline.
Der letzte Schluck Kaffee.
Ich zünde mir eine Zigarette an und stelle mich zum gekippten Fenster. Den Rauch blase ich durch den Spalt hinaus, es ist frisch geworden. Mehrfach blicke ich noch panisch zum Bildschirm, weil ich vielleicht keinen Betreff, keine Anrede, weil ich vielleicht auch einfach den ganzen Anhang vergessen habe.
Doch es passt alles.
Es ist Mitternacht.
Die Straße ist fast leer, und in der Ferne läutet die nächstgelegene Kirche.
Und in der Stille kommt mir das essentielle i-Tüpfelchen in den Sinn.
Ich hasse mich.
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