Freie Sonntagswahl
von Katelijne Gillis
Ich lenke das Fahrrad über die verschlungenen Wege Richtung Strand und bin vom Geruch der Natur überwältigt. Jetzt an diesem verregneten Maimorgen duften die Pflanzen noch intensiver, der Weißdorn süßlich und scharf, die Heckenröschen, der Sanddorn, die Gräser, ich weiß gar nicht, wie all diese Pflanzen heißen. Ich nehme mir vor, mit den Kindern meiner Klasse diese Woche einen Ausflug durch die Dünen zu machen. Dann müsste ich mir zuerst mal erklären lassen, wie das ganze Gestrüpp hier heißt natürlich.
Hektor, der große Mischling, trabt neben mir her, die Ohren flattern. Wenn wir beim Strand ankommen, stelle ich das Rad ab, der Holzweg führt uns über die Dünen, wir laufen zum Wasser und dann eine Weile an der Brandung entlang, es ist noch früh.
Umso weiter er läuft, desto ruhiger werden die Wellen. Die Schlickgeräusche unter den nackten Füßen werden leidenschaftlicher. Jedes Mal, wenn ein Fuß den nassen und nachgebenden Boden berührt, fließt etwas von seiner Anspannung in den ewigen Sand.
Seine Füße schmerzen, der große Zeh rechts bekommt bestimmt eine Blase an der Außenseite, und auch der zweite Zeh links. Er soll durchs Wasser laufen, dann geht es, das Wasser kühlt. Und die weichen, dunkelgrünen Algen sind beruhigend und sanft zu den Füßen, anders als die schnittigen Muscheln.
Die Möwen lassen sich frech auf dem Westwind weitertragen, scharf um sich blickend, ob irgendwo etwas zu essen ist. Die Quallen schweben verständnisvoll und ruhig durch das seichte Strandwasser. Sie sind wunderschön, fein transparent mit roten Adern und schwarzen Pünktchen, schimmernd in den Wellen. Er kann sich mit den Quallen durch das Wasser treiben lassen, durch die Nordsee, raus in den Ozean. Er wird sich von dem Meeresgetier bis ganz in den Norden begleiten lassen. Dort, wo Eis ist und wo Haie leben, die 400 Jahre alt sind. Diese Tiere sind schwer zu erreichen, sie leben in den dunklen Tiefen, kaum ein Mensch hat sie jemals zu Gesicht bekommen. Aber sicherlich gibt es einen Weg, die jahrhundertealten Wesen zu besuchen und Erfahrungen auszutauschen.
Von Tier zu Tier.
Es ist Sonntag. Ein wolkenverhangener Himmel. Eine Spaziergängerin wirft ein Stöckchen für den Hund in die Wellen, der Hund freut sich, springt ins Wasser und taucht hinter dem Stock her. Mit großen Sprüngen kommt er wieder aus der Brandung, nass, ausgelassen, voller Entschlossenheit, seinem Frauchen den Stock zu bringen. Sie wirft es wieder ins Meer, und der Hund hechtet hinterher.
Frauchen ist ganz zufrieden.
Seine Freundin liegt bestimmt noch im Bett. Ob sie alleine ist?
Er schaut auf die Uhr, eine ganze Weile trabt er schon in diese Richtung. Jetzt dreht er um, läuft wieder zum Dünenpfad zurück. Wenn der Wind von vorne kommt, ist das Laufen beschwerlich. Es scheint ihn zu wundern.
Anfänger.
Er sieht die Spaziergängerin mit dem Hund, der fröhlich bellend um sie herumspringt. Wäre er doch nur mit ihr zusammen, sie versteht es, wenn man einfach nur spielen will. Sie wäre die perfekte Partnerin, sie würde ihn laufen lassen, wenn er es braucht, denn sie kennt sich mit Tieren aus.
Wie er wohl im Bett ist?
Seine Freundin hat die Beziehung beendet. Sie ist wieder zu ihren Eltern gezogen. Sie meint, er würde sich nicht genug um sie kümmern, er würde nur an sich und an den Sport denken.
Die Hundebesitzerin kümmert sich!
Er sieht gar nicht so schlecht aus. Er läuft zwar holperig, aber er ist barfuß, das ist normal. Und der Wind hat ihn überrascht. Er ist sportlich, er mag Hunde, er kennt den Strand. Er lässt sich vom Sturm nicht abschrecken.
Morgen wird er tierische Wadenschmerzen haben. Übermorgen auch.
Sonntagmorgens arbeite ich im Strandcafé, jede Woche ein bisschen Urlaub. Der Weg hierhin ist bezaubernd, vor allem an den Tagen, an denen der Strand fast leer ist. Die Wolken hängen tief heute, obwohl es nicht mehr regnet, werden meine Haare nass von der Seeluft.
Es ist jetzt Zeit, mit der Arbeit anzufangen, Hektor läuft schon mit großen Sprüngen die Holztreppe hoch und legt sich oben auf der Terrasse unter einen Tisch. Ich schließe die Tür auf und bereite alles vor.
Früher sind wir sonntags zu den Großeltern gefahren. Es waren noch weitere Verwandte da, Onkel und Tanten. Im Sommer saßen wir draußen, unter der großen Eiche, im Winter beim Kamin in den tiefen Sesseln. Der lange Tisch hatte eine frisch gestärkte Tischdecke und Silberbesteck.
Die Stoffservietten waren frisch gewaschen und gebügelt, etwas, das mir früher nie aufgefallen war. Die Teller wurden im Winter auf den Kamin gestellt, zum Vorwärmen.
Kein Mensch hatte sonntags eine Jeanshose an oder etwas mit Löchern. Ich schaue zögernd nach unten, auf meine Beine, Jeans mit Löchern.
Großmutter hat nur sehr wenig geredet. Vielleicht war sie einfach zu erschöpft.
Hat sie jemals außer Haus gefrühstückt? Im Strandcafé nicht, das gab es damals nicht einmal. Ich schaue Imke an, die kurz nach mir angekommen ist und hinter der Theke steht, wie sie einen perfekten Cappuccino macht, und denke an den Keramikfilter, mit dem meine Großmutter den Kaffee aufgebrüht hat. Es war ein Fest für sie, morgens alleine am Tisch zu sitzen und Kaffee zu trinken. Das hat sie mir mal erzählt, ich habe damals nicht verstanden, warum man alleine am Tisch sitzt und Kaffee trinkt, jetzt verstehe ich es.
Wie gerne würde ich sie mit hierhin nehmen, aber sie lebt schon lange nicht mehr. Hätte ihr das gefallen, am Sonntagvormittag hier auf der Terrasse zu sitzen und über das Meer zu blicken? Die jungen Leute, froh und herzlich, würden sie besonders freundlich bedienen, sie war eine Dame, die man sofort ins Herz geschlossen hat. Ja, es hätte ihr gefallen.
Es sind schon einige Gäste da. Ich gehe raus und verteile die bunten Decken auf den Stühlen. Hektor liegt zufrieden unter dem Tisch.
Ich hoffe, dass der Jogger gleich hier auftaucht. Vielleicht hat er tatsächlich gerade Schluss mit seiner Freundin, so wie der gelaufen ist, und braucht er Zuwendung. Ich schaue zum Dünenpfad. Es laufen einige Leute mit Funktionsjacken und Rucksäcken Richtung Wasser. Hosenbeine hochgekrempelt, Schuhe in der Hand. Aber der Jogger ist nicht zu sehen.
Während ich einen Tisch mit älteren Damen bediene, die früh aufgestanden sind und auch schon einen Spaziergang hinter sich haben, stelle ich mir vor, wie der Sportler hier reinkommt, frisch geduscht und mit einem weißen Hemd. Es ist ja Sonntag. Schön körpernah geschnitten. Nicht zu eng. Und eine gutsitzende Jeans. Die Haare noch nass. Leicht duftend nach einer guten Seife.
Ich schaue um mich. Kein weißes Hemd zu sehen. Es ist ja noch früh, ich gehe schnell mit der Bestellung der Damen zur Theke und Imke hilft mir, die Getränke schon mal fertigzustellen. Milchkaffee, fast alle. Ich hätte es mir denken können.
Wenn der im weißen Hemd Milchkaffee bestellen würde, wäre mein Interesse weg. Aber er ist ja nicht hier.
Immer wieder sonntags verliebe ich mich. Wenn ich über den Strand laufe und der salzige Wind in meinen Haaren ist, bin ich glücklich. Ich lache nicht laut und ausgelassen, ich singe nicht immer ein Freudenlied, aber ein tiefes Gefühl wundert mich jedes Mal. Ich gehe davon aus, dass das Glück ist. Ich nenne es Verliebtheit, dieses Gefühl, das fast genauso viel Schmerz wie Freude hat. Es ist ein Verlangen. Es ist ein Heimweh. Es hat etwas mit Wehmut zu tun. Leidenschaft.
Es ist schön, wenn dann gerade ein Objekt vorbei joggt. Eine Projektionsfläche für die Sonntagsgefühle. Das gibt mir dann richtig Energie, meine Fantasie wird beflügelt und ich könnte Gedichte schreiben. Schmerzhafte, passionierte Gedichte, überschwänglich und barock. Vielleicht soll ich das machen, ich könnte meinen alten Füllfederhalter nehmen und ein Blatt blütenweißes Papier, mit unregelmäßigen Rändern. Aber ich weiß, sobald diese Empfindungen auf Papier stehen, sind sie nur noch losgetretene Gefühlslawinen, aufdringlich, im Weg, erstickend, zu massig. Man kann sie nicht aufschreiben. Gerade deshalb sind sie so kostbar.
Jon kommt auf die Terrasse. In Jon bin ich auch ein bisschen verliebt, ich fühle mich in die 80er Jahre zurückversetzt, wenn ich ihn sehe. Damals war man halt in den Surflehrer verliebt. Er riecht nach Wind und Wasser. Heute gibt er keinen Surfunterricht, sonntags frühstückt er bei uns im Café. Er küsst mich zur Begrüßung und setzt sich auf seinen Stammplatz, Hektor liegt unter seinem Tisch.
Es dauert nicht lange, bevor einige Mädchen dazukommen und sich in seine Nähe setzen. So geht das immer. Wie ein Magnet zieht er sie an. Ich versuche nicht zu grinsen, als ich zwei Espressi bringe und mich zu ihm setze. Wir reden über die vergangene Woche, ich über meinen neuen Schüler, der zum Ende des Schuljahres noch in die Klasse gekommen ist und fast kein Wort versteht, aber super gut in Mathe ist, er erzählt von dem Dünenprojekt, wie viel Sand aufgeschüttet werden muss, was neu bepflanzt wird, wie viele kleine Seehunde in der Auffangstation angekommen sind. Ich wittere meine Chance, frage ihn, ob er mit mir durch die Dünen gehen will und die Pflanzen erklären, denn ich will ja mit den Schülern einen Ausflug machen. Er schaut mich peilend an.
Da kommt der Jogger ins Café. Er humpelt ein wenig, was mich nicht wundert, bestimmt ist er es nicht gewohnt, solch lange Strecken barfuß über den Sand zu laufen. Er hat ein weißes T-Shirt an, immerhin. Ich konzentriere mich auf Jon und genieße das Gefühl, dass ich eine freie Wahl hätte. Langsam trinke ich den Espresso, stehe auf, gehe zu den Mädchen am Nachbartisch und bitte sie, sich zu Jon zu setzen, da der Tisch, an dem sie sitzen, gleich reserviert ist. Sie freuen sich und schütteln mit den Haaren.
Der Jogger frühstückt alleine, in eine Zeitung vertieft. Ich gehe zu ihm. Spreche ihn an. Er weiß sofort, dass wir uns vor ein paar Stunden getroffen haben, als es leicht geregnet hat. Ich frage ihn nach seiner Strecke, nach der Zeit, nicke voller Anerkennen. Flipflops. Pflaster an den Zehen. Wenigstens hat er schöne Füße. Er redet mit einem interessanten Akzent.
Ich liebe diese Sonntage.
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