Für immer und ewig und darüber hinaus

von Silvia Griessmair

Sonntag ist dein Tag. Es ist der Tag, den ich dir gewidmet habe. Damals, heute, immer.

Es ist früher Morgen. Die Kleinstadt schweigt; bis auf vereinzelte Autofahrer und eine Hand voll Fußgänger scheinen alle noch zu schlafen. Die Luft ist feucht und kühl, ein weißer Schleier hängt über allem. Es ist ein ziemlich dichter Nebel, so dass ich den Bach mehr höre, als ich ihn sehe. Er führt an diesem Tag besonders viel Wasser, eine Folge der beeindruckenden Regenfälle der letzten Nacht – er rauscht so laut, als wolle er alles verschlingen, was sich ihm in den Weg stellt. Eine Kohlmeise, die unweit von mir auf einem Ast hockt, lässt sich vom Tosen der Wassermassen nicht beeindrucken und trällert vergnügt vor sich hin. Ein mutiger, kleiner Vogel.
Ich bleibe einen Moment stehen und betrachte ihn. Ich beobachte wie seine Brust beim Singen anschwillt. Er wirkt als könne er es allein mit der ganzen Welt aufnehmen. Ich wünschte, ich könnte mich auch so fühlen.
Ich gehe weiter. Meine Schritte auf dem Asphalt klingen heute ungewohnt hart, hart und mühsam. Ich versuche, nicht daran zu denken – es ist auch so schon schwer genug. Ich frage mich, wann es endlich leichter wird. Man hat mir nämlich versichert, dass das passieren würde. Allerdings konnte mir niemand sagen, wie lange das genau dauern würde. Ich weiß nur, dass es heute noch nicht soweit ist.
Immerhin scheine ich diesen Weg schon oft genug gegangen zu sein, dass meine Füße alleine zum Ziel finden – ein Gedanke, der mir nur zusätzliche Bauchschmerzen verursacht. Eigentlich will ich mich gar nicht daran gewöhnen. Ich will, dass alles wieder so ist wie früher.
An der weißen Mauer gehe ich entlang, ums Eck, bis zum Eingang. Als ich das metallene Gittertor öffne, quietscht es schrill. Ich verziehe das Gesicht. Noch immer nicht geölt. Ein weiterer Stolperstein.
Ich betrete den Weg aus Pflastersteinen und mache ein paar Schritte vorwärts, als mich ein lautes „Krah!“ links von mir zusammenzucken lässt. Der Übeltäter ist schnell ausfindig gemacht: Ein paar Meter weiter sitzt eine grau-schwarze Nebelkrähe und starrt unverhohlen in meine Richtung. So ein Frechling!
Ein paar Sekunden lang erhalte ich den Blickkontakt aufrecht, doch schnell wird mir klar, dass ich bei diesem Spiel sowieso den Kürzeren ziehen werde, also gehe ich dazu über, den Vogel zu ignorieren und setze meinen Weg fort.

Kurz darauf habe ich mein Ziel erreicht.
„Hallo du…“, grüße ich den aufrechtstehenden, anthrazitfarbenen Stein, auf dem in goldenen Lettern dein Name steht.
Deine Antwort bleibt – wie auch bei meinen letzten 31 Besuchen hier – aus; zumindest kann ich sie nicht hören. Gewöhnt habe ich mich noch nicht daran. Ebenso nicht an die eine Million anderer Dinge, die sich verändert haben, seit du fort bist.
„Ich habe dir etwas mitgebracht…“
Ich lege die einzelne weiße Rose oben auf dem Grabstein ab, daneben platziere ich einen kleinen Kieselstein – eine jüdische Tradition, von der du immer begeistert gewesen bist.
Ich gehe vor deinem Grab in die Hocke – bald wird es wieder warm genug sein, dass ich mich ins Gras setzen kann. Mit den Fingern streiche ich sacht über die goldenen Buchstaben, fahre die in Stein gravierten Konturen nach und muss dabei an die vielen Augenblicke denken, als ich die Linien deines Gesichts nachgezeichnet habe. Schon verrückt wie Dinge an Wert gewinnen und verlieren. Es sind vor allem die Kleinigkeiten, die ich vermisse.
Wenn ich die Augen schließe und mich ganz fest anstrenge, kann ich mir vorstellen, dass du neben mir stehst.
„Mir geht es genauso…“, sagst du in meiner Fantasie und legst mir die Hand auf die Schulter. Ich kann sie fast spüren.
Ich erzähle dir von meiner Woche. Von den kleinen Schritten zurück ins Leben und in den Alltag, die mir gelungen sind. Von den Momenten, in denen ich dich so sehr vermisst habe, dass es mich fast zerrissen hat.
Du bist gut im Zuhören, warst du schon immer. Man konnte mit dir über alles reden, ganz egal was es auch war. Wie oft hast du mich mit dieser Fähigkeit wohl gerettet? Beim Gedanken daran muss ich lächeln.
Ich erinnere mich an damals, an die Sonntage, die wir noch zusammen verbracht haben. Im Park die Sonne genießend, uns bei Regenwetter gegenseitig Geschichten vorlesend, wann immer uns danach war einen Ausflug an den nächsten Strand machend, …
Weißt du noch, dieses eine Mal als wir unter freiem Himmel geschlafen haben? Es ist eine meiner Lieblingserinnerungen. Wir zwei nebeneinander und über uns die Sterne. Du warst mir so unglaublich nah, wie kein Mensch je vor oder nach dir. Teil deines Lebens zu sein, neben dir einschlafen und aufwachen zu dürfen…
Was soll ich da noch sagen?
Meine Gedanken driften ab…
Vermutlich werde ich nie neben dir ruhen. Oder doch? Ich weiß es nicht. Das, was wir beide hatten, was zwischen uns war, war „anders“, es war „besonders“. Nicht schubladen-konform. Unerklärbar. Menschen tun sich schwer mit solchen Dingen. Vor allem diejenigen, die nicht Teil davon sind. In unserem Fall also jeder außer uns zwei. Ohne dich hier stehe ich allein gegen die anderen, allein gegen den Rest der Welt.
Wenn es nach mir ginge, würden wir immer zusammen sein, immer zusammenbleiben. Die Frage ist nur was passiert, wenn ich tot bin. Werden sie akzeptieren, was wir hatten? Werden sie es anerkennen? Oder werden wir beide einsam enden? Du hier und ich dort?
Ich weiß, dass es hier nur um den Symbolcharakter geht. Denn wenn ich erst einmal tot bin, werden wir – sofern vorgesehen – sowieso wieder vereint sein. Ganz egal, was die anderen denken und wollen.
Ich wünschte, ich könnte mir sicher sein. Ich wünschte, es gäbe keine Zweifel darüber, dass ich dich wiedersehen werde. Ich weiß, mir bleibt nur, daran zu glauben, darauf zu hoffen. Mich an der einen Tatsache zu trösten, die mir niemand nehmen kann: Ganz egal wie es auch ausgeht, ich werde nie aufhören, dich zu lieben.

Langsam löst sich der Nebel auf, die Sicht wird klar. Sonnenstrahlen durchbrechen den Dunst, ringsum erwacht das Leben, die Atmosphäre verändert sich. Ein unverkennbares Gezwitscher ertönt. Auf einem Ast in der Nähe hockt ein kleiner Zilpzalp – dein Lieblingsvogel. Ich bin mir sicher, dass das ein Zeichen ist. Du bist hier, hier bei mir. Wir sind immer noch zusammen. Und so erneuere ich meinen Schwur:

Auch wenn du „fort“ bist
ich bleibe
hier
an deiner Seite
für immer
und ewig
und darüber hinaus

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