Gedicht oder nicht oder ein magisches Kalendarium
Rezension von Walther
Adrian Kasnitz, KALENDARIUM #1, GEDICHTE, Köln 2015, parasitenpresse, Die nummernlosen Bücher, 44 Seiten, Taschenbuch, € 10,00, zu bestellen unter https://parasitenpresse.wordpress.com/buchladen/
Die Parasitenpresse, die Adrian Kasnitz mit Kolleg*innen betreibt, ist ein Geheimtipp unter den (Lyrik-)Verlagen. Wir haben bereits einen Band vorgestellt. Dies ist jetzt der 2., und er stammt aus den Tasten des Verlegers selbst. Das muss nicht unbedingt immer Gutes bedeuten. Hier ist das anders. Die Gedichte sind lektoriert und redigiert. Das kann man an der überwiegend hohen Qualität erkennen. Deutlicher gesagt: Selten waren von 31 Gedichten 31 mindestens ordentlich. Châpeau!
Womit wir beim Thema wären: Gerade hat der Rezensent das Lesen eines anderen Bands abgeschlossen. Er hat nichts gegen Vers libre einzuwenden. Weit gefehlt. Nur gegen gespreiztes Geplappere, das, mit Umbrüchen versehen, zum Gedicht werden soll, in der Tat aber nichts anderes darstellt als einen zum Kunstgegenstand erhobenen Tagebucheintrag. Natürlich ist Poesie oftmals nichts anderes als Selbsttherapie durch Entäußerung mittels Schreibens. Daran ist solange nichts auszusetzen, solange das Ergebnis den Leser unterhält, ihm einen Mehrwert bietet – und den Kritiker erfreut, anstatt ihn mit der seitenweise erneut aufwerfenden Frage zu beschweren, ob man noch einen weiteren – viel zu oft vergeblichen! – Versuch wagt, im Sandhaufen einen kleinen Diamant zu entdecken.
01.01. [Beginn]
An diesem Tag fühl ich mich wie mit Maske
ein kühles Tuch liegt auf dem Gesicht
weder die Schmerzen weichen
noch das Neue sehe ich, sehne mich nackt
vor dem neuen Jahr zu stehen und es wie eine
weiße Wand zu betrachten
nimm du einen Stift
beginne, auf mir zu schreiben, Wörter
an mich zu heften, Vorsätze durchzudeklinieren
Auf der ersten Textseite steht dieses Gedicht als erstes in einer Reihe, jeden Tag des Monats Januar repräsentierend. Warum wurde es als Beispiel ausgewählt? Wegen der Maske natürlich! Nein, Scherz beiseite. Weil es natürlich, titelgemäß, etwas, nein, sehr viel, mit dem Jahresanfang zu tun hat. Da ist zum einen der Schmerz des dicken Kopfes, der von Hineinfeiern unter Zuführung von viel Alkohol rühren dürfte. Leber und Gehirn haben ihre eigene Sprache, das Wegschießen der Selbststeuerung zu bestrafen.
Aber darüber hinaus treten wir beim Lesen in einen Dialog ein: Das Neue, kursiviert, soll schreiben. Auf der Haut bitte. Die Falten, die Altersflecken und Narben sind die Zeichen, die der Stift hinterlässt. Er heftet Wörter an, gräbt sie ein, dekliniert den Vor- und hinterlässt den Nachsatz.
31.01. [Wintermeer]
Weit, das schieferne Meer, die Tektonik
der Schädelplatten,
geschrumpft, der weiche Ozean
auf eine winzige Stelle unterhalb der Brust
noch zuckt das Herz,
dieses Biest in mir
noch schwimmt ein Fisch im Plastikstrudel
eine Scheibe kratzt in deinen Arm
Den Abschluss bildet dieses kleine Trauerstück. Hier im wahrsten Sinn des Worts. Denn ein Trauerspiel ist es nicht – nur das Bild, dass es evoziert. Das Bild verschränkt in sich spiegelnd Meer und Ich, das Abbild des Betrachters. Schiefern ist es, wie eine Tafel. Geschrieben darauf: ein Plastikstrudel, eine Scherbe, die einen Arm ritzt und die Seele meint, Schädelplatten, die sich auf den Punkt zusammenschieben, ein Herz, das sich verbiestert. Schrecklich. Alles in diese wenigen, lakonischen Verse geschafft. Gepackt wäre falsch, weil das ist es ja nicht nur. In der Tat trägt das LyrIch (das als LyrDu erscheint) ein Päckchen. Und zwar ein großes, ein ganzes (Winter-)Meer davon.
Es kann sehr empfohlen werden, auch die 29 anderen Gedichte zu lesen, die beileibe eines nicht sind: einfach nur Tagebucheinträge, einfach nur inkontinentes Geplauder, das einzig den oder die interessiert, die da plaudern.
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