Gitter
von Elina Lerch
Manchmal denke ich, du sitzt hinter Gittern. Gitter, die ich nicht sehen kann, du sowieso nicht, weil du sie gebaut hast, weil du sie kennst, weil du sie als Geborgenheit empfindest. Vielleicht sind sie das, Geborgenheit. Vielleicht geben sie dir einen Plan, wie du den Tag verbringen kannst, dein Leben leben sollst, eine Struktur, die alles in gewohnten Formen hält.
Ich denke, dein Gefängnis ist ein Kalender. Jeder Tag ein Teil des geflochtenen Gitters, Monate verwoben und gestreckt zu Streben und Wänden und verschweißten Stäben. Du lebst nach ihnen, nicht eintönig, nicht langweilig, nur gehorsam. Dein Gefängnis sagt dir, wann du was zu erledigen hast, es sagt dir sogar, wie du es zu erledigen hast. Hausaufgaben machen – konzentriert, Abendessen – angeregt diskutieren, Kinoausflug – entspannt. Alles nach Plan, immer wachsam, selbst wenn du ruhig bist, wachsam, einen Blick schon auf die nächste Spalte, ein Auge stets auf das gesamte Raster.
Du wägst ab, bevor du etwas unternimmst, wägst ab, ob es passt, ob es nicht zu viel wird. Es ist längst zu viel geworden. Denn du wägst es bei jenen Dingen ab, die dir gut täten, und organisierst neue Dinge, die deine Streben verdicken, dein Gitter engmaschiger werden lassen.
Dann erst, wenn es zu spät ist, sagst du, dass es zu viel ist, einfach zu viel, sagst du und ich weiß nicht ob ich dir glauben soll, weil ich weiß, dass du es eigentlich brauchst. Du brachst Druck, das habe ich längst bemerkt, du brauchst ein Programm und eine Struktur, mit unverplanter Zeit weißt du immer was anzustellen, aber du planst, was du damit anzustellen gedenkst.
Längst hast du dich an die Gitterstäbe gewöhnt, brauchst sie, weil du nicht weißt, wohin du laufen sollst, wenn du frei wärst. Alle Zeit, die du hast, für dich, dich ganz alleine, versuchst du so effizient zu nutzen wie nur möglich, weil sie nur begrenzt vorhanden ist und weil es so viel gibt, das du eigentlich gerne tun würdest, wären die Stäbe nicht da.
Vielleicht brauchst du den Druck, willst ihn sogar, ohne es zugeben zu wollen, aber das kann doch nur daran liegen, dass du den Himmel noch nie unvergittert gesehen hast. Er würde dir seltsam erscheinen, sähst du ihn ohne die Raster, die ihn zerschneiden, wie sie auch dich zerschneiden. Für mich zerschneiden.
Aus deiner Sicht bist du ganz. Und ich bin zerschnitten.
Aus deiner Sicht bist du frei, und die Welt ist eingesperrt: Wer will dir einen Vorwurf machen, denn du hast es nie anders erlebt. Nie anders gekannt. Ich würde dich so gerne befreien.
Wäre da nicht dieses eine Aber.
Denn manchmal denke ich, du säßest hinter Gittern. Gitter, die ich nicht sehen kann und du schon gar nicht, weil du sie ja selbst gebaut hast, weil du für normal hältst, weil du sie als Geborgenheit, als etwas Gutes, empfindest. Vielleicht sind sie das. Geborgenheit.
Vielleicht.
Vielleicht aber auch nicht.
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