Herzzerreißend? Nervtötend! – oder: wen(n) Lyrik nervt … –
Andreas Thalmayr, Lyrik nervt! – Erste Hilfe für gestresste Leser, Carl-Hanser-Verlag, München/Wien 2004, gebunden, ISBN 3-446-20448-2
Ob Lyrik nervt? Und ob! Aber natürlich! Wer hätte nicht bereits mit Lyrik und Gedichten eine Begegnung der Dritten Art gehabt? Und mit Möchtegerndichtern? Wer nicht, der hebe jetzt die Hand…
Andreas Thalmayr will in diesem eng umgrenzten lebenswichtigen Feld der Welt, ja der gesamten Menschheit – und hier zuallererst der deutschsprachigen –, helfen. Und die hat in der Tat ganz dringend Hilfe nötig. Im Gegensatz zu vielen anderen Heilsversprechen und ihren Stiftern: Er kann. Wirklich!
Irgendwie, man beachte die Widmung, hat er das Buch wohl am Anfang für seine beiden Töchter geschrieben, die, weil gefrustet durch das Institut der Gedichtsinterpretation und dessen schulische „Bewältigung“ – oder besser „Über(be)wältigung“? –, ihren dichtenden Vater wohl gefragt haben, warum er denn an dieser Lyrik einen Narren gefressen hat. Dieser Vater: ausgerechnet Dichter! Kann er nicht einen gescheiten Beruf haben?
Und, in der Tat, die Narrheit muss den schon gewaltig angefressen haben, der da dichtet. Poesie und Lyrik sind etwas Zartes und Filigranes, das allzu häufig mit recht grobem Werkzeug vergewaltigt wird, sei es beim Dichten selbst oder auch beim nachherigen „Besprechen“. Wobei – in beiden Fällen – manche Narren diese Narrheit des Dichtens mit Narrenfreiheit gelegentlich zu verwechseln scheinen.
Lyrik ist, zu allem Übel, noch dazu etwas sehr Persönliches. Ein Gedicht ist die vielleicht privateste Form der Mitteilung, der Entäußerung von Gefühlen und Gedanken, die der Mensch kennt. Vom Liebesgeflüster einmal abgesehen. Aber, wendet der Kenner ein, ist nicht die Liebeslyrik ein Schwerpunkt der Dichtung aller Zeiten gewesen? Diesem Einwand sei an dieser Stelle, (un)gnädig selbstredend, stattgegeben. Wer hätte nicht schon ein Liebesgedicht geschrieben. Oder zumindest sich daran versucht…
Andreas Thalmayr macht eine Kunst aus der Kunst, die Dichtkunst im Allgemeinen und Besonderen aufzuschließen, damit dieselbe sich dem Leser daraufhin luftig leicht erschlösse. Das Bändchen ist nicht nur lesenswert für Noch-nicht-Dichter und gedichtinterpretationsgeschädigte Schüler und Schülerinnen. Es ist auch ein Schlüsselchen – gerade 100 Seiten lang – für alle die Leseratten, die bisher den Zugang zur Lyrik nicht haben finden können. Und, nicht zuletzt, eine Blaupause für die vielen Deutschlehrer auf dieser Welt, die schon immer eine geeignete Unterrichtsvorlage für eine Einführung in die Literaturform „Gedicht“ gesucht haben.
In lockeren Textwölkchen, mit Beispielen garniert und einigem augenzwinkernden Tiefgang ausgestattet, wird das Dichten im Allgemeinen, im Besonderen aber auch Reimarten, Versmaß, Metren und einige wesentliche Gedichtformen erläutert. Dass heute der „Freistil“ in der Lyrik nicht fehlen darf, ist selbstverständlich und bedarf eigentlich keiner gesonderten Erwähnung. Wiewohl der Rezensent hier häufig das Liedhafte vermisst, das doch einen wesentlichen Baustein aller Dichtung darstellt, ist so dem Zeitgeschmack Genüge getan.
Nach dem Lesen des Bändchens wird mancher und manche sich zu dichten trauen, vielleicht sogar Freude am „Konsum“ von Dichtung finden. Zu hoffen wäre dies, denn – rein lyrisch betrachtet – ist Deutschland derzeit fast eine Wüste. Öd und leer sozusagen. Und das, was geschrieben wird, ist eher randständig als populär und allgemeinverständlich. Ganz anders ist das beispielsweise im spanischen oder russischen Sprachraum oder auch in Irland.
Die vorgelegten knappen 100 Seiten Text sind ihren nicht zu niedrigen Preis in jeder Hinsicht wert. Dieses Buch sollte jeder Literatur- und Lesefan gelesen haben. Freuen würde es nicht zuletzt wohl Autor wie Rezensent, wenn mehr gute deutsche Lyrik geschrieben, gekauft und gelesen würde. Jenseits der sattbekannten Klassiker und der Frankfurter Anthologie.
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© 11.09.2004 by Walther