„Ich trinke meine Arbeit in mich hinein, trinke heraus, ich kann nur mehr trinken.“ (Ingeborg Bachmann)*
*) Ingeborg Bachmann, Ich weiß keine bessere Welt – Nachgelassene Gedichte, München 2011, Piper-Verlag, ISBN 978-3-492-27256-8, 208 Seiten, Broschur, € 9,99 [D], € 10,30 [A], S. 151
Gedicht von Karin Seidner
Damit ich nicht zu trinken vergesse über all den Schicksalen, stelle ich zwei Gläser Wasser auf den Tisch. Eines für die Klientin, eines für mich.
Ich trinke Wasser. Ein Glas Wasser alle 50 Minuten. Mit jeder Klientin eines. Für jedes Schicksal ein neues Glas Wasser.
Mein Vater hat sich umgebracht, als ich 12 war. Schluck.
Meine Mutter wurde ermordet, als ich 15 war. Schluck.
Mein Vater hat mich missbraucht. Schluck.
Mein Mann schlägt mich – ich war im Spital. Schluck.
Das Glas leeren. Acht Stunden, acht Klientinnen, acht Gläser Wasser. Macht zwei Liter. Manchmal sind es auch zehn Klientinnen, zweieinhalb Liter Wasser. Manchmal mache ich mir auch einen Filterkaffee, obwohl er mir nicht schmeckt und mich etwas schwindlig macht. Aber Milchkaffee ist tröstlich, sagt man.
Zehn Klientinnen, zehn Aufzeichnungen schreiben. Dann noch Anfragen von Klientinnen am Computer beantworten.
Heimfahren.
Dort ein Glas Bier trinken. Sofort ein Glas Bier brauchen. Abendessen. Kauen. Schlucken. Zum Verdauen einen Fernet brauchen.
Tun, was zu tun ist. Den Haushalt erledigen. Erledigt sein. Keine Kraft mehr zum Träumen haben.
Den Frühstückstee am Sonntag im Bett trinken.
Die Flasche Rotwein am Wochenende trinken.
Die Flasche Sekt mit den Freundinnen leeren und mit ihnen lachen wollen!
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