Ich weiß, dass ich nichts weiß: über Jüdischkeit im Allgemeinen und in Deutschland im Besonderen
Rezension von Walther
Walthers Buch des Jahres 2021
Marina Weisband & Eliyah Havemann, Frag uns doch!, Sachbuch, S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main, ISBN 978-3-10-397491-1, 192 Seiten, gebunden, € 18,00 (D)
70 Jahre nach der Wannsee-Konferenz, die das bereits laufende größte Judenpogrom aller Zeiten industriell organisierte, stellt der Jüdischer Weltkongress in einer Studie fest, dass jeder dritte Deutsche unter 30 Jahren grundsätzlich antisemitische Vorstellungen hat. Bei allen Erwachsenen ist es immerhin noch jeder Fünfte. Befragt wurden 5000 Menschen. (Quelle: https://www.zeit.de/news/2022-01/26/wjc-pandemie-als-brandbeschleuniger-fuer-antisemitismus?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.google.com%2F). Im gleichen Beitrag vom 27.01.2022 spricht der Bericht der ZEIT vom „Antisemitismus auf Allzeithoch.“
Was hat das mit dieser Rezension zu tun? Viel, sehr viel. Wie die Co-Autorin Marina Weisband in diesem Buch sinngemäß formuliert, fällt es erheblich schwerer, etwas zu hassen, das man kennt. Fremdes, das Angst macht, auf das man verborgene Mächte und Riten profizieren kann, bietet eine gute Basis, Hassgefühle zu erzeugen und Verschwörungserzählungen anzuregen. Dem Menschen, dem man nicht kennt, kann man Böses viel leichter andichten oder anhängen, als man das mit dem jüdischen Nachbarn tun kann, mit dessen Familie man bereits zu einem abendlichen Schabbat-Mahl gegessen hat oder mit ihm gemeinsam einen G?ttesdienst in der Synagoge besucht hat.
Der Rezensent hat nach einer vierwöchigen Reha-Maßnahme, anlässlich derer er den Kantor einer israelitischen Gemeinde kennen und schätzen lernte, mit diesem seine Idee besprochen, eine Reihe über jüdisches Leben in Deutschland heute zu machen. Leider ist das gescheitert, weil der Freund eben kein Autor ist und auch wegen seiner vielen Aufgaben einfach nicht die nötige Zeit und freie geistige Spitzen hatte. Storytelling ist, wie man auch aus dem Social Media Marketing weiß, nicht jedem in die Wiege gelegt. Es ging darum, das Wissensdefizit über das beseitigen zu helfen, was Jüdischkeit in Kern heißt – und wie es unseren Mitbürgern und Mitbürgerinnen jüdischen Glaubens und Herkunft denn im Deutschland gerade geht.
Das Buch, das hier vorgestellt wird, stößt exakt in diese mehrfache Wissenslücke. Wer dem klug kommentierten und nachbetrachteten Sachbuch durch die knapp 200 Seiten folgt, kann und hat viel erfahren: über den jüdischen Glauben, über die jüdischen Traditionen und Feiertage, darüber, dass das Judentum die einzige monotheistische Religion ist, die nicht missioniert, und darüber, wie schwierig es ist, zum jüdischen Glauben überzutreten. Schon die Prozedur, überhaupt mit dem Erlernen dessen zu beginnen, was den Glauben ausmacht, stellt den Bewerber vor eine lange Geduldsprobe und erfordert Hartnäckigkeit, Geduld und eine große Überzeugung.
Wir lernen auch, dass das Konzept der Nächstenliebe keine Erfindung des Christentums ist. Ebenso die Mitmenschlichkeit und die selbstverständliche Hilfe für die Schwachen und Armen. Wie überhaupt dieses Sachbuch auch für denjenigen, der Antisemitismus und Rassismus verabscheut, Einiges an Sachinformation und Quellenmaterial beisteuert, was beides vereint und unterscheidet. Vor allem erfährt man, wo bereits die antisemitische Konnotation beginnt. Dramatisch allerdings ist die Erkenntnis, dass auch im persönlichen Umgang in Deutschland der Judenhass und Stigmatisierung der Jüdischkeit immer weiter um sich greift. Womit wir wieder, in einer Ellipse quasi, am Anfang der Besprechung angekommen wären.
Was Eliyah Havemann und Marina Weisband über Anfeindungen berichten, wenn man nur die Kippa und den Davidstern öffentlich trägt, beides Ausdruck des Glaubens und der Jüdischkeit, schockiert und schmerzt. Für den Rezensenten sind – neben der oben zitierten Studie des Jüdischen Weltkongresses – die Berichte über eigene Erlebnisse der beiden AutorInnen Grund und Antrieb, noch genauer hinzusehen und hinzuhören. Und natürlich sofort dazwischen zu gehen, wenn antisemitisch argumentiert wird. Der Tipp Marina Weisbands, die Äußerung als antisemitisch zu entlarven und dem Äußernden vor die Wahl zu stellen, diese zu überdenken und zurückzunehmen, bevor er oder sie selbst sich als Antisemit bezeichnen lassen muss, schafft sachlich Klarheit. Sie hilft sogar manchmal, aber leider durchaus nicht immer.
Für den Rezensenten ist dieses Sachbuch sein Buch des Jahres 2021. Er empfiehlt nachdrücklich, dieses Buch zum Gegenstand einer Projektwoche auf allen Schulen in Deutschland zu machen. Vielleicht lässt sich der Verlag ja erweichen, anfragenden Schulen dafür einen Spezialpreis zu machen. Es wäre zu wünschen.