Im Land des Rosts

von Mischa Fuchs

Felsen und Gräben halten ihn nicht mehr. Keine Sturmfront bläst ihn zurück auf seinen Posten – unweigerliche Konsequenz einer Flucht. Funkelnde Küste. Der Verräter im Paradies. In der Gischt liegen mit Eisen beschlagene Ochsenhäupter zur Ruhe gebettet, fast wie er es von zu Hause her kennt, nur um ein Vielfaches fremder.

Wir legen an, spricht der Fährmann, doch die wahre Prüfung beginnt erst.
Geld klimpert in klamme Hände. Keine Namen werden genannt. Zwischen Turmwolken und Windböen lächelt Mutter Motte auf ihren verlorenen Sohn herab.
Doch er muss es immer wieder denken: Das Meer ist nur ein Streifen.
Der Krieg springt im Schlaf auch an weit entfernte Kehlen, rote Kehlen, stoppelverseucht, gebrandet und mit Striemen verziert. Mit verzehrten Händen fährt er sich um den Hals, der Schnurrbart des Fährmanns erzittert, das fremde Land ist verlassen, das weit fremdere erreicht. Der Mann springt von der Fischerbarke, und seine Füße fressen sich im Dauerlauf durch das Unterholz wie ein Bluthund entlang einer Fährte.

Der letzte Abend vor der Schlacht hatte seiner Mutter gegolten. Er hat einen Brief geschrieben, einen Umschlag zugeklebt und das Konstrukt fachmännisch mit einer Marke verziert. Dann hat er den Brief verbrannt und die Asche in den Wind gestreut. Ein letztes Mal noch, angehaltener Atem und das ferne Sterbeweinen des Lazaretts (wie Chopin aus Menschenmündern) und dann sich ein Herz fassen. Dann rennt er davon, im Schutze der Nacht. Dass er so weit kommen würde, wer hätte es gedacht?

Er ist jetzt ein Flüchtiger. Die Bäume raunen es ihm zu.
Ich habe es ihn sagen hören: Dryade, Dryade, Dryade. Nimm dich mir an.
Der Wunsch nach Absolution ist gegeben, Elysium für die Schwachen, aber nur das Moos lauscht, mit saftigen Ohren, ausgewaschen vom Tau. Tiefe Löcher graben sich in den Waldboden, hier und da denkt er an eine Latrine, aber es ist nur eine Senke, und er riecht Blut und denkt an eine Leiche, aber nur der Fuchs tötet im Wald, der Mensch bleibt auf dem Feld zurück.

Seine Kameraden sind Erde. Wurzeln. Helme. Kugeln. Irgendwo hören die Finger auf und die Läufe fangen an, am Gewehr wie am Klavier. Seine Erinnerungen tragen ihn nur bis zur vorletzten Kugel, dann platzt sein Trommelfell, wieder und wieder.
Ein Pilz wächst auf seiner Schulter. Wuchern. Wuchern. Wuchern.
Ich habe Fenris gesehen, wird er später sagen.
Und er wird den Pilz meinen, obwohl der Wolf nur ein Gebüsch entfernt seine Zähne gebleckt hat. Er wächst. Aber niemand sieht ihn. Schon morgen steht er vielleicht in Paris und uriniert auf den Champs-Élysées.

Seine Flucht dauert an. Wie lange schon?
Als er den nächsten Waldhügel bestiegen hat (Dünen aus Unterholz, die sich davon stehlen in der Nacht wie ein Dieb), meint er das erste Mal, seine Verfolger zu hören.
Schnappt den Deserteur, werden sie sagen, und dabei ist die Heimatstadt doch so nah, aber kein Unterschied – niemand wird ihn passieren lassen. Gestern noch lag er auf der Pritsche vor dem Ofen. Vorgestern spielte er im Pferdestall. Vor einigen Sekunden flog die erste Granate. Ach, wenn die Bäume nur wachsen würden, schneller als seine Zweifel, und ihn absorbierten, in ihre Mitte nähmen.
Ach, hört er seine Mutter noch seufzen, dass da mal alles gut geht.

Er verliert Zeit. Viel ist nicht mehr in ihm, der Krieg ist aus ihm hinaus geflossen wie Kerosin aus einem lecken Tank und gefährdet nun die ganze Operation, ein Pulverfass vor dem Bersten. Wohin wenden, wenn alle Grenzen dicht sind? Der Himmel scheint ihm so recht zu sein wie Nord, Ost, Süd und West zusammen.

Er steigt die Anhöhen hinauf, wo es geht, und die Absenkungen hinunter, wenn er keine andere Wahl hat. Er sieht hier und da schon Baumkronen, die im Geäst blitzen. Er muss lange gelaufen sein, der Rucksack wird leichter und seine Beine schwerer, auch wenn Tag und Nacht schon seit einiger Zeit einem persistenten Zwielicht gewichen sind, als wenn der Norden über das Land eingebrochen wäre und seine Töchter gleich mitgebracht hätte, und sie alle zelebrieren das Heute und lassen dem Morgen nicht den Hauch einer Chance.

Er riecht es im Wind. Es riecht wie Bergluft. Der Wald lichtet sich. Der Gipfel der Welt, kurz gesagt, ein rostiger Beobachtungsturm. Vielleicht fünfzig Meter hoch. Vielleicht mehr. Knappes Rot frisst sich schon am Braun der hohlen Stangen entlang. Schwer vorzustellen, dass beide Seiten den Punkt bisher übersehen haben.
Wann werden sie ihn finden? Nach dem Krieg? Oder schon morgen? Wenn der ewige Tag sein Ende findet? In der Dämmerung? Dämmert es etwa schon?
Er sieht keine Sterne, noch ist es hell. Wo schlafen, wenn nicht ganz oben, denkt er und startet den Aufstieg, Stufe um Stufe.

Schon auf Nummer fünf sieht er das Land. Die Bäume treten beiseite. Die Küste zur Rechten, das offene Feld zur Linken, hinter dem Wald. Überall tobt der Krieg.
Der Krieg ist kein Ding mehr, er ist jetzt ein Lebewesen. Er hat tausend Köpfe und zweitausend Hände. Von seiner Position ganz oben sieht der Fliehende alles ganz genau: Das Ende des Waldes, und dahinter das Feld, die gegenüberliegenden Feldlager und die ameisengroßen Soldaten beider Seiten, ein Tross aus Gefangenen, denen selbst die Illusion der Flucht schon seit langem geraubt wurde. Und wie die Massen sich aufeinander zu bewegen und wieder halt machen, ein zittriges Hinundher, ein verhaltenes Ballett des Wahnsinns und der Maschienengewehrsalven, da erst erkennt der Beobachter auf seinem Turm aus Rost die groteske Körperlichkeit des Krieges, der fast schon Mensch ist mit seinen auf- und niederebbenden Zorneswallungen.
Und wenn er ein Gesicht hätte, wäre es ein kantiges, mit harten Linien und dünnen, violetten Lippen, die einen unsicher wackelnden Kiefer umkleideten, und wenn er Kleidung hätte, wäre sie braun, wie die aufspritzende Erde des unbescholtenen Feldes. Doch was der Krieg auf jeden Fall besitzt, ist ein Geruch, ein Odem, und er lockt Jäger an, mächtiger als er selbst.

Fenris erwacht.

Ein Berg erzittert. Das Gebirge erbebt und der Wolf – versteckt bis zu diesem Augenblick vor aller Augen – hebt sein Haupt in Richtung der Schlacht, er wittert Blut. Sein weißes Fell sträubt sich über den Ebenen, elektrisiert, er ruft die Blitze. Das Warten hatte sich gelohnt (der Wolf ist immer so groß wie die Beute). Seine Pfoten bedecken ein Feldlager pro Bein. Sein Rücken ist ein eigenes Schneemassiv, ein Gipfel, für den man kein Gleichnis kennt. Hier oben, am Rostturm, sieht man die Wolken heranziehen. Ein Gewitter kommt. Stufe fünfzehn ist erreicht. Der Atem pfeift, ein einziges Geräusch, Musik für die Pause, wie in alten Zeiten, bevor alles andere begonnen hatte.

 Auf dem Schlachtfeld tobt das Chaos. Er kann es sehen, weit unter ihm, die winzigen Soldaten, denen der hungernde Wolf nachjagt, und sie zu Hunderten verschlingt. Ganze Kompanien gehen in seinem Schlund unter. Flucht ist zwecklos. Er nimmt Mensch und Tier, Pferde, Maschinen, Gewehre. Der Wolf ist der wahre Krieg, aber besser organisiert. Jetzt stellen sie Gegenwehr auf, aber es ist Notgebaren. Tod ist vorübergehend, aber das Gewitter ist nah.
Endlich schafft er es weiter.

Stufe vierundzwanzig. Die Wolken werden bedrohlicher, sie drücken von oben, als wollten sie ihn mit sich ziehen, immer nach unten. Ein Höhenkomplex: Eifersucht? Wer weiß. Ein Blick nach links, auf das Meer. Eine Walnussschale schaukelt in der Badewanne. Wer hat das kleine Boot zwischen die Frachter gelassen? Keine Erklärung, nur ein gebannter Blick. Wird es die Überfahrt schaffen?
Er hat den Schnurrbart nicht vergessen. Geld wurde gewechselt, aber auch Verständnis. Und jetzt: Wellen und Kanonenboote, alles im Überfluss, außer Chancen.
Der Tanz mit dem Leben, hat seine Mutter immer gesagt, und er wusste nie wozu, aber er weiß jetzt, was sie meint: Holz auf Wasser, Muscheln im Gepäck und Perlen nur durch Dreck. Und keine Ufer in Sicht. Das Schifferboot tänzelt. Ein Schatten erhebt sich. Aber er muss weiter…

 Und er klettert, oh, wie er klettert. Rost zwischen den Fingernägeln, wer liebt das nicht? Wind, ja Wind.
Er sieht die Schlacht in der Ferne, der Krieg hebt seine eiserne Hand über die See.

Nixen spielen unter den Wellen und bauschen schaumiges Weiß auf die Kronen der Wellen wie Ballkleider zum Tanz. Da nimmt der Schatten Gestalt an, ein Wesen, dass man kennt, wenn man als Kind im Tümpel spielt: ein Weltenverschlinger, die zweiköpfige Schlange, sie erhebt sich aus ihrer Gruft und projiziert das „V“ ihrer Stirn mit aller Gewalt in den Himmel.
Die Nussschale schaukelt auf und ab, aber gibt nicht nach, da endlich feuern die Geschütze die erste Salve, und das Tier erhebt sich aus dem Schlamm, aus den Tiefen, die die Welt umspannen.

Kanonenboote gegen Jörmundgand.

Feuer lässt den Horizont fiebrig glänzen und trocknet jede Kehle aus, die dem Spektakel beiwohnt. Zu linker Hand stürmen noch immer Armeen gegen den Wolf. Seine Reißzähne spannen Berghänge. Eine Lawine aus Zahn. Ein Gewitter aus Auge. Und kein Gott, der ihn erschlägt, nur fliegengleiche Zinnsoldaten, die mit erhobenem Bajonett zu- und weg stürmen.
Nichts hat sich verändert, im groben. Nur dass er sich jetzt festhalten muss, und nicht selber läuft, sondern steigt. Und er erinnert sich: Steigen, egal was passiert. Der Wolf zur Linken. Die Schlange zur Rechten. Aber er nach oben. Und dann weiter.

 

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