Irrlichter
von Isa Rot
Als sich der Lichtkegel des Suchscheinwerfers ihm nähert, drückt er sich in den Schatten der Barackenwand. Knapp verfehlt das Licht seine Fußspitzen, dann wandert es weiter. Jakob wartet einen Augenblick, dann läuft er los, auf den Stacheldrahtzaun zu, der im Dunkeln liegt. Dort hat er vor ein paar Tagen eine Kuhle entdeckt. Beim Zaun angekommen, legt er sich flach auf den Boden und robbt vorwärts in die Vertiefung hinein. Als der Lichtkegel sich ihm wieder nähert, presst er sich noch dichter an den Boden. Das Licht streift kurz seinen Rücken. Kein Ruf vom Wachturm.
‚Sie haben mich nicht entdeckt‘, denkt er und robbt weiter.
Mit den Händen versucht er, die Erde vor sich wegzuscharren. Ein schmerzhaftes Ziehen an seiner Kopfhaut. Sein Haar hat sich verfangen. Er beißt die Zähne zusammen und reißt sich los. Sie werden die Haare dort finden, denkt er, morgen, wenn sie den Zaun mit den Hunden ablaufen. Hinter dem Zaun wartet er ab, bis der Lichtstrahl wieder auftaucht und weiterwandert. Dann steht er auf und beginnt, geduckt zu laufen.
‚Wenn nur der Mond nicht hervor kommt,‘ denkt er.
Doch es bleibt dunkel. Nach einer Weile gelangt er auf eine harte Unterlage. Die Straße. Er läuft weiter, immer bereit, in den Straßengraben zu springen, wenn sich ein Fahrzeug nähern sollte. Doch die Straße ist gegen Mitternacht leer. Bei der nächsten Verzweigung bleibt er einen Augenblick stehen und horcht. Im Lager wurde nicht Alarm geschlagen. Offenbar hat man seine Flucht noch nicht entdeckt. Er beschliesst, die Strasse wieder zu verlassen und querfeldein zu laufen.
Nach einer Weilte bleibt er wieder stehen.
‚Wie lange ist er schon gegangen? Wie weit vom Lager entfernt?‘ Er lauscht. Stille um ihn. Er hört nur seinen Atem. Spürt das schnelle Heben und Senken seiner Brust. Er geht weiter. Fühlt, wie seine Beine schwerer werden, sein Gang langsamer. Einen Augenblick bricht der Mond durch die Wolken. Jakob blickt sich um. Sieht eine wellige Ebene vor sich. Dann wird es wieder dunkel. Ein leises Rascheln. Er zuckt zusammen, bleibt stehen. Dreht sich um. War wohl eine Maus, denkt er und geht weiter. Aus der Ferne erklingt ein leises Rauschen. Das muss Schilf sein. Ein Windstoss fährt ihm feuchtkalt über den Körper. Er zittert.
‚Todeshauch‘, geistert es durch seinen Kopf.
Seine rechte Ferse schmerzt. Er versucht, mit dem Fuss sachter aufzutreten. Doch der hinkende Gang strengt ihn an. Er bleibt stehen, lauscht. Immer noch das Rauschen des Schilfs, sonst nichts. Er setzt sich, versucht sorgfältig den rechten Schuh auszuziehen. Der Schuh bleibt an der Ferse kleben. Ein brennender Schmerz, als er ihn losreisst.
‚Ich habe mich wund gelaufen,‘ denkt er, öffnet die Schürsenkel und zieht den Schuh etwas auseinander in der Hoffnung, sich etwas Erleichterung zu verschaffen.
Dann steht er auf und humpelt weiter. Versucht, den Schmerz zu ignorieren.
‚Wann wird es dämmern?‘
Ihm ist, als seien Stunden vergangen. Er muss den Wald erreichen, ehe es Tag wird. Sich dort bis zur nächsten Nacht verbergen. Einen Augenblick lang beleuchtet der Mond wieder die Ebene. Kein Waldrand in Sicht.
‚Hat er sich verirrt? Geht er gar im Kreis?`‘
Der Boden unter seinem rechten Fuss gibt nach. Wasser füllt seinen Schuh. Das Rauschen ist stärker geworden. Er geht ein paar Schritte zurück, bis er festen Boden unter sich hat. Langsam bewegt er sich weiter. Entfernt sich von dem Rauschen, bis es nur noch leise zu hören ist. Er stolpert. Fängt sich auf. Seine Lider werden schwer. Als sein Kinn auf die Brust sinkt, reißt er den Kopf hoch und öffnet die Augen. Da sieht er in der Ferne ein kleines Licht. Es scheint sich hin und her zu bewegen. Er schaudert.
‚Ist da jemand mit einer Lampe unterwegs? Geht er ihm gar entgegen?‘
Er bleibt stehen. Lauscht. Stille. Da sieht er ein zweites, ein drittes Licht.
‚Sie kommen auf mich zu. Sie haben mich gehört.‘
Wieder horcht er. Keine Schritte. Nichts. Der Schein einer Lampe sieht anders aus, denkt er. Erinnert sich an eine Geschichte, die ihm Mutter erzählte, als er klein war. Von bösen Geistern, die Menschen mit Lichtern in die Irre führen.
‚Irrlichter! Keine Verfolger, sondern ein Naturphänomen.‘
Er atmet durch. Und bemerkt, dass sich der Boden unter ihm leicht bewegt. Seine Schritte erzeugen ein schmatzendes Geräusch.
‚Ich bin in einen Sumpf geraten.‘
Er erstarrt. Blickt wieder nach den Lichtern, die vor ihm hin und her tanzen. Nein, dorthin wird er nicht gehen. Er dreht sich um. Sucht festen Boden unter den Füssen. Doch sie sinken immer wieder ein. Sind nass und eiskalt geworden. Er blickt zum Himmel. Der Mond bleibt verborgen. Immer noch dieses schmatzende Geräusch unter ihm. Er dreht sich um, versucht es mit einer anderen Richtung. Auch hier gibt der Boden nach. Erschöpft hält er inne.
‚Ich bin mitten ins Moor geraten,‘ denkt er. ‚Nirgends ein sicherer Halt.‘
Sein Herz rast. Sein Atem keucht. Auf der Stirn bilden sich Schweisstropfen und rinnen über seine Wangen. Er zittert wie im Fieber und fröstelt. Wieder versucht er es. Wieder schwappt Wasser in seine Schuhe.
‚Ich versinke, wenn ich hier nicht wegkomme,‘ denkt er.
Er blickt sich um. Die Lichter sind erloschen. Nun hat er vollends die Orientierung verloren.
‚Geht er weiter? Geht er zurück?‘
Da beginnt er in Panik zu laufen. Das Wasser spritzt unter ihm hoch. Er läuft und läuft, begleitet von einem Glucksen und Schmatzen unter ihm. Plötzlich verstummt das Geräusch. Er hat festen Boden unter den Füssen und bleibt stehen. Schöpft Atem. Hört ein Rauschen, doch anders als das Singen des Schilfs.
‚Der Wald!‘
Vor ihm zeichnen sich dunkel die Bäume gegen den dämmernden Himmel ab. Er eilt auf sie zu. Da leuchtet ein Licht auf.
„Halt. Stehen bleiben!“
Geblendet schliesst er die Augen. Dann dreht er sich um und beginnt zu laufen. Kurz darauf verspürt er einen heftigen Stoss in seinen Rücken, fällt hin, rappelt sich wieder hoch, taumelt weiter. Ein weiterer Schuss, ein brennender Schmerz. Er wankt, fällt vornüber, krallt sich mit seinen Händen in die feuchte Erde. Sein Körper bäumt sich auf. Dann entfernt sich der Schmerz. Es wird still in ihm.
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