Kampf um Frieden
Geschichte von Nicole Kristin Kessler
Ein lauter Knall, die Augen schienen mit dem Mund einen Wettkampf auszutragen, wer weiter aufgerissen wird, unentschieden der Kampf der beiden Gesichtsteile, beendet der ewige Kampf ums Überleben.
Ein dumpfer Knall, als der leblose Körper am harten Boden der Tatsachen bzw. auf dem Asphalt aufprallte.
Die Soldaten um mich herum fielen kurz in eine Schockstarre. Sie hatten in diesem Feldzug trotz ihrem Grünspan hinter den Ohren bereits viel gesehen und waren Bauernopfer in einem Krieg, der nur Verlierer hervorbrachte, aber dass ein Mann den eigenen Landsmann tötete, hatten sie bis dahin noch nicht miterleben müssen. Augenblicklich holte ich sie aus ihrer Regungslosigkeit mit dem Befehl: „Ihr drei schiebt Wache, die anderen sieben rein in die Hütte und so viel wie möglich an Essbarem und Munition aufladen! Zack, Zack, die Zeit rennt, und ihr jetzt auch!“
Als Ältester der Truppe hatte ich das Kommando übernommen, nachdem der Gruppenführer bereits nach wenigen Fronttagen im Kampf gefallen war.
Statt auf weitere Befehle zu warten und bis dahin den alten Anordnungen blind und gehorsam zu folgen, wie es auch der von mir erschossene Wachmann vor dem Lager eisern tat, zog ich den Rückzug vor. Weg von der Front, weg von den Menschen, die uns auslöschen wollten. Man munkelte bereits, die letzten Stündlein hatten für diesen Krieg geschlagen, warum also noch weiterkämpfen für ein Land, das vermutlich ziemlich zerbombt war.
Der Posten vor dem Verschlag, in dem Vorrat lagerte, hatte sich geweigert, uns mit Essen und Munition zu versorgen. Lange Diskussionen waren aufgrund Feind im Nacken nicht möglich, zudem war mir langes Debattieren schon immer fremd. Elf sollten überleben, einer musste dafür sterben. Nicht gerade ein heldenhafter Tod, aber standhaft der Soldat bis zum letzten Aufprall. Seine Angehörigen, sofern noch vorhanden, würden die Hälfte der blutigen Erkennungsmarke zugeschickt bekommen. Vorausgesetzt, irgendjemand leistete noch ordnungsgemäß seinen Dienst.
Es war ein harter und weiter Fußmarsch zurück in die Heimat, ins Ungewisse, was und wer einen dort noch erwartete. Keiner wusste, ob er seine Lieben und sein Zuhause wieder sehen konnte.
Es wurde nicht viel geredet in den drei Monaten Heimreise. Vielmehr konzentrierte man sich auf den Weg, jeder war auf seine Art und Weise in Gedanken versunken und doch hellhörig auf mögliche Angreifer.
Von uns elf Deserteuren waren schließlich acht an ihr Ziel gekommen, die Körper der anderen drei mussten wir auf der Strecke in Straßengräben zurücklassen. Zwei weitere, die den Kriegsgegnern und den Kopfgeldjägern erfolgreich entkamen, starben kurze Zeit später nach Kriegsende an den Folgen der kräfte- und gesundheitszehrenden Kriegsjahre.
In schweren Zeiten kam man nicht zum Grübeln, aber danach beschäftigte einen das Erlebte. Nicht nur tagsüber, sondern auch nachts oftmals holte es einen ein. Natürlich hätte ich als getaufter und gläubiger Katholik mit dem Herrn Pfarrer darüber in der Beichte sprechen können und um Vergebung bitten, aber ich hatte es nicht getan. Mit jemandem, der nicht dabei bzw. in der Situation war, konnte man darüber nicht sprechen. Schon gar nicht über das Unaussprechliche.
Selbst mit dem Kerl, der ursprünglich Philosophie studieren wollte, statt mit mir an der Front Waffen polieren, und mit dem ich Jahre später, nachdem der Krieg zu Ende war, immer freitags eine Partie Schach spielte, selbst mit diesem Leidensgenossen wechselte ich kein Wort über die Tage unserer Fahnenflucht.
Ich vermutete, auch er könnte keine Antwort darauf finden, ob es rechtens war, das Leben von elf Menschen zu retten und dafür eines zu opfern. Oder ob man ohne seinen eigenen Fluchtreflex und mit mehr Zeit und dem richtigen Ton den Wachposten überreden hätte können? Oft dachte ich darüber nach, ob ich auch so gehandelt hätte, wäre ich alleine gewesen. War es mir in erster Linie wichtig, mein eigenes erbärmliches Leben zu retten oder ging es mir darum, die jungen Kameraden aus der Schusslinie zu nehmen, damit diese eine Zukunft hatten? Ich wusste es nicht. Die Denk- und Altersfalten wurden immer mehr, und mit Sicherheit konnte ich nur sagen: Mein Totenhemd war mir bereits näher als meine Arbeitshose. Ich wünschte mir nie, nie wieder Krieg! Das hoffte ich für meine Nachkommen aber auch für mich selbst aus reinem Egoismus. Ich wollte zumindest äußerlich in Frieden meine letzten Lebensjahre verbringen, es genügte mir schon, wenn ich innerlich einen Kampf um das Erlebte mit mir selbst austrug.
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