Kolumne: Schreiben lernen während der Pandemie
Rückblick, Oktober 2020:
Ich stehe um 7:33 Uhr mit Mund-Nasen-Schutz und frisch gepresstem Orangensaft an Gleis 14 des Berliner Hauptbahnhofs und suche den Fahrradwagon. Immer ganz hinten, ah, danke. Ich fahre zum dritten Mal in meinem Leben mit dem ICE und habe eigentlich gehofft, mich mit einer Kommilitonin aus Berlin hier zu treffen, der ich mein Fahrrad dann lässig hinterherschieben könnte, als wüsste ich ganz genau wie Bahnfahren funktioniert. Sie hat leider entschieden, in Berlin zu bleiben, als das Institut die Erstsemester-Veranstaltungen mit den Dozenten vor Ort abgesagt hat. Mein Tutor, der mittlerweile wieder in Neukölln wohnt, hat in unserem Zoom-Einführungscall gesagt: Nehmt auf jeden Fall ein Fahrrad mit nach Hildesheim, das ist die beste Art der Fortbewegung dort. Dann hat er hinzugefügt: Ich habe mit dem Gesundheitsamt Niedersachsen gesprochen, es ist wohl nicht ratsam, Einführungsveranstaltungen in Präsenz stattfinden zu lassen. Ich werde in Berlin bleiben. Wollen wir uns stattdessen online unsere Texte vorlesen? Es ist unmöglich unseren Tutor nicht zu mögen. Ich könnte mir in dieser Zeit keinen besseren wünschen. Eine kleine Gruppe von Studierenden hat eine Telegram-Gruppe gegründet und will im Anschluss an die teilnehmerbegrenzte Stadtführung der Fachschaft mit Abstand auf dem Campus picknicken. Ich informiere mich via ICE-W-LAN über das Beherbergungsverbot in Niedersachsen. Außer Kraft gesetzt. Ich habe schon gebucht, als es noch besser aussah. Ich hoffe, dass meine Reise noch zu den notwendigen gehört. Wenigstens habe ich einen drei Tage alten Negativ-Test.
Literarisches Schreiben und Lektorieren ist kein konsekutiver Masterstudiengang, die meisten von uns haben vorher nicht Kreatives Schreiben studiert. Ich komme aus der Philosophie und Gräzistik, andere aus der Fotografie, Film, Theater, Pädagogik, Psychologie. Wir alle haben uns mit einem Schreibprojekt beworben, als die Welt noch in Ordnung war. Im Kennenlern-Zoomcall haben wir die Projekte einander vorgestellt und einige, mich eingeschlossen, haben zugegeben, dass sie sonst sehr wenige oder gar keine Menschen kennen, die sich mit dem Schreiben beschäftigen oder ein ähnliches Maß an Interesse dafür haben. Ich bin froh, endlich präsentieren zu können, was ich mir monatelang in meinem Kämmerchen überlegt habe und diese Euphorie spüre ich auch bei anderen. Endlich eine Community, auch wenn sie nur aus kleinen verpixelten Bildchen besteht, die aus ungünstigen Winkeln Menschen vor Kühlschränken und Zimmerpflanzen abbilden. Kurz vor Braunschweig schaue ich durch das Fenster des ICEs auf nebelverhangene Moorwiesen und denke darüber nach, ob nicht das Schreiben eh eine einsame Tätigkeit ist und vielleicht dadurch eine Pandemie spurlos daran vorbeigehen sollte. Wenn es so einsam ist, warum wollte ich es dann studieren? Gerade deshalb?
Die meisten Veranstaltungen des Wintersemesters 20/21 finden online statt, einige unter Vorbehalt in Präsenz, als Block. Der Vorteil: Ich spare mir die Bahncard 100, auf die ich seit einem halben Jahr gespart habe. Der Nachteil: Die Semesterplanung hat mehrere Tage in Anspruch genommen, ist absolut chaotisch und ich bin nicht sicher, ob ich alles ordentlich untergebracht habe, trotz liebevoller Unterstützung unseres Tutors und diversen Hilfsangeboten vonseiten der Uni. Wenn ihr noch irgendwelche Fragen habt, schreibt mir einfach, hat er gesagt. Ich weiß aber gar nicht, was ich fragen soll. Wegen jeder Kleinigkeit eine E-Mail schreiben? Ich würde ihn gerne nebenbei fragen, nach allem, was mir so in den Sinn kommt, während wir vom Ackerpferdestall zum Kartoffelwaschhaus laufen oder im Hofcafé ein Stück Kuchen essen. Aber die Domäne in Hildesheim, der Kulturcampus, wo die Räume so eigenartige Namen haben, bleibt vorerst geschlossen. Und trotzdem fühle ich mich den Umständen entsprechend dort zu Hause, via Zoom und E-Mail. Die Uni Hildesheim, das Literaturinstitut, die Fachschaft der Kulturwissenschaften, sie alle versuchen uns angehende Schreibforscher so gut es geht in Hildesheim willkommen zu heißen. Ich weiß nicht, ob es der beste oder schlechteste Zeitpunkt ist, solch ein Studium anzufangen. Vielleicht ist es einfach ein Zeitpunkt, es ist nun einmal so gekommen und wir alle versuchen das beste daraus zu machen. Die Fahrt ging schneller vorbei als ich dachte, wir erreichen Hildesheim in wenigen Minuten. Mein Fahrrad ist zwischen zwei anderen eingekeilt, wie gemein. Ich kriege mein Schloss nur mit Mühe geöffnet. Nach hektischem Gefummel stehe ich doch noch drei Minuten vor der Tür bis sie ich endlich öffnen. Ich will wenigstens für zwei Tage mit Maske, Mindestabstand und Desinfektionstüchern die Stadt, in der ich zwei Jahre studieren werde, mit der Fachschaft erkunden. Den Mitstudierenden, die hier wohnen oder angereist sind, einmal zuwinken, über den Campus Hallo! zurufen. Und vielleicht, mit Glück und Vorsicht, habe ich doch noch die Gelegenheit, in den kommenden zwei Jahren ein lässiger und routinierter Vielfahrer zu werden.