Kopfbahnhof Cayenne-Bar
von Julia Richter
Der Übersetzer hatte falsch gerechnet. Nach dem islamischen Kalender, dessen Zeitrechnung erst 622 nach dem christlichen Kalender beginnt, war Ferhat 1407 zur Welt gekommen. Statt 1986 errechnete der Übersetzer 1987 – was niemanden wirklich störte, auch Ferhat selbst nicht. Plötzlich hatte er ein neues Geburtsdatum und ein neues Leben in einem neuen Land.
Ferhat und ich arbeiteten in der gleichen Bar. Zeit, uns zu unterhalten, hatten wir eigentlich nur um vier Uhr Nachmittag, wenn die Bar öffnete und wir draußen unter dem Vordach die kleinen Ikea-Holztische aufstellten, die im Sommer ein wichtiger Bestandteil des Bar-Inventars waren. Und um zwölf Uhr nachts, wenn wir die Bar schlossen, die Tische wieder zusammenklappten und mit Stahlseilen vor Diebstahl schützten.
Ferhat sprach sehr gut Deutsch, mit einem starken Akzent. Er erzählte mir, dass er immer ein Schriftsteller werden wollte. Schon in der Schule habe er Gedichte geschrieben. Worüber er denn schreibe, fragte ich ihn einmal, und er antwortete wenig aufschlussreich: „Über das Leben.“
Ferhat war ein syrischer Kurde und hatte mit seiner Mutter und seinen Brüdern im Norden Syriens gelebt. Der Vater war bei einem Luftangriff ums Leben gekommen. Ferhat gehörte zu den Millionen von Menschen, die vor dem Bürgerkrieg nach Europa geflohen waren. Die Mutter und die Brüder waren in Syrien geblieben. Die Mutter hatte die Stadt, in der sie geboren war, in der sie immer gelebt hatte, nicht verlassen wollen. Und die beiden Brüder wollten dort bleiben, um zu kämpfen, um ihr Zuhause zu verteidigen. Wie Ferhat mir erzählte, waren seine Brüder und seine Mutter bereit zu sterben. Er selbst war es nicht. Er wollte leben. Er wollte Gedichte schreiben.
Wir waren fast gleich alt, und er hatte schon so viele Dinge erlebt, die niemand erleben wollte – während ich immer noch damit beschäftigt war, darüber nachzudenken, was ich eigentlich mit meinem Leben anfangen sollte. Dieser Gedanke erfüllte mich mit einer melancholischen Faszination, und gleichzeitig ekelte ich mich ein wenig vor mir selbst.
Nach meinem Studium der Philosophie und der englischen Literatur begann ich in jener Bar zu arbeiten, in der ich Ferhat kennenlernte. Er war vor einem Bürgerkrieg geflohen. Ich floh von den Zwängen des Karriere-Imperativs, der mir noch nie ganz geheuer gewesen war. Die Integration in die für Universitätsabsolventen vorgespurte Arbeitswelt erschien mir zu diesem Zeitpunkt nichts anderes als diktatorisch. Der Ablauf von Studium – Praktikum – Festanstellung – Beförderung – Treueprämie – Pensionierung – Tod erschien mir so sinnlos, dass ich keine andere Möglichkeit sah, als mich zu entziehen und das Gegenteil von dem zu tun, was die Gesellschaft von mir erwartete.
Ich wusste, wie anmaßend und unbedeutend meine Probleme im Vergleich zu jenen Ferhats waren. Eigentlich traute ich mich kaum, ihm davon zu erzählen.
Er hatte natürlich nie als Schriftsteller arbeiten können. In seiner kleinen syrischen Heimatstadt hatte er Computer repariert. Die Bäckerei seiner Eltern war einem Luftangriff zum Opfer gefallen. Irgendwann gab es fast keine Lebensmittel mehr und nur sporadisch Strom. Der Islamische Staat griff an. Die USA griffen an. Die syrischen Regierungstruppen griffen an.
Ferhat und ich, wir waren so verschieden, und doch trafen wir uns irgendwie an einem ähnlichen Punkt: Als Mitarbeiter in der Bar Cayenne – benannt nach der Hauptstadt, nicht nach dem Auto – schlugen wir uns die Abende und die Nächte um die Ohren. Ich war nie vor halb zwei Uhr zuhause und dann immer zu aufgekratzt, um schlafen zu können. Er war geflüchtet, weil er in seinem Zuhause nicht mehr leben konnte; er war geflüchtet um zu überleben. Ich versuchte aus dem Korsett sozialer Erwartungen zu fliehen, war wohlstandsverwahrlost, empfand Überdruss und Orientierungslosigkeit.
Wir zapften Bier, machten Milchkaffee und Tee, nahmen geduldig Beschwerden über Zapfen im Wein entgegen und ärgerten uns, wenn zehn Leute gleichzeitig einen Latte Macchiato bestellten, dessen Zubereitung so aufwendig war. Wir waren mit Schaufel und Besen zur Stelle, wenn ein betrunkener Gast sein Glas von Tisch wischte, und wir nahmen es mit professioneller Freundlichkeit hin, wenn uns ein alter Herr im Anzug mit diesem „ich bin so großzügig“-Augenzwinkern zehn Rappen Trinkgeld gab.
Ich war nicht nur orientierungslos, ich war auch höchst neurotisch. Auch wenn ich die Türklinke zur Cayenne-Bar nach dem Abschließen mehrfach drückte, um herauszufinden, ob ich wirklich abgeschlossen hatte, beschäftigte mich zuhause im Bett die Frage, ob die Eingangstüre wirklich zu war. Wenn ich zur Arbeit ging, rotierten meine Gedanken um das Hochhaus, das möglicherweise brannte, weil ich vergessen hatte, meine Herdplatten abzustellen – obwohl ich eigentlich wusste, dass ich sie zweimal kontrolliert hatte, bevor ich meine Wohnung verließ.
Dagegen gab es bei Ferhat keine Anzeichen von Neurose. Er wählte seine Worte mit Bedacht und erschien in allem, was er tat und dachte, rational und reflektiert.
Wenn wir nach der Arbeit noch etwas tranken, so war es für mich meist Bier, für Ferhat Schwarztee. Er trank nie Alkohol. Er sagte, er schätze die Dinge nicht, die ihn davon abhielten, klar zu denken. Ich trank Alkohol, weil ich es mochte, dass ich mich wenigstens temporär dem klaren Denken entziehen konnte. Wenn ich mit anderen Leuten unterwegs war, kam ich oft in die Situation, dass ich schon mein zweites Glas Wein leergetrunken hatte, während das erste Glas meines Gegenübers noch fast voll war.
Sein Handy war für ihn eines der wichtigsten Dinge, die er besaß. Einmal hatte er es abends in der Cayenne-Bar vergessen. Er erzählte mir am nächsten Tag, dass er, als er den Verlust bemerkte, nochmals eine Stunde von seiner kleinen Wohnung zur Bar gelaufen war, um es zu holen. Das war der Momen,t als ich begriff, was das Handy für Ferhat bedeutete: Während es für mich kaum mehr war als digitales Junkfood, mit dem ich langweilige Minuten überbrückte, war es für ihn der Kontakt zu seiner Familie und zu seinen Freunden, die in Syrien geblieben waren. Für ihn war das Handy wichtig, um herauszufinden, ob seine Mutter und seine Brüder noch lebten. Ich googelte damit Kindergartenfreunde und schaute Fotos von Thomas an, der mit solariumgebräuntem Körper und Stahlmuskeln an Bodybuilder-Wettbewerben teilnahm.
Ferhat sagte, er trage seine Heimat mit sich. Die Gedanken an seine Familie und seine Freunde, an den Geruch aus der Bäckerei, der Fadenteig, das Sesam, die gehackten Pistazien, die Cashewkerne. Flucht bedeutete für ihn keine totale Entwurzelung.
Ich war mir nicht ganz sicher, was meine Flucht bedeutete. Die Flucht aus den gesellschaftlichen Konventionen, von denen ich mich so eingeengt fühlte, war keine materielle Notwendigkeit. Vielmehr setzte mich das Credo der Selbstverwirklichung durch den Beruf, der totalen Identifikation mit der Arbeit unter Druck. Meine Verwandten und Freunde meinten es gut und fragten immer wieder nach, was ich denn eigentlich mit meinem Leben zu tun gedächte, wann ich endlich mal anfinge, „was Richtiges“ zu arbeiten.
Ferhat wollte einen Job, wollte seiner Familie, die in Syrien geblieben war, Geld schicken. Im Gegensatz zu mir hatte er immer gewusst, was er wollte. Im Gegensatz zu mir hatte er keine Angst vor einer allmählichen Auflösung in einem geregelten Leben.
Er wünschte sich all das, wovor ich Angst hatte und vor dem ich floh. Halt, Sicherheit, Struktur – vielleicht sogar Langeweile und Überdruss. Ich war in der Vorstellung aufgewachsen, alles tun zu können, alles bekommen zu können, was ich wollte. Ferhat war mit nichts gekommen und wusste, was es bedeutete, alles zu verlieren.
Wir beide auf der Flucht. Wir beide in der Cayenne Bar, wie wir Tische zusammenklappten und sie fest banden. Seine Flucht war tragischer und bedeutungsvoller als meine. Und trotzdem ertrank ich in Selbstmitleid und Zweifeln – über mich selbst und über das Leben im Allgemeinen. Während Ferhat voller Hoffnung, Energie und voller Willen war, aus seiner Situation und aus seinem Leben das Beste zu machen.
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