Korpus

von Laura Müller-Hennig

Julia kann super gut schmuggeln. Sie hat mir die Gitarre besorgt. Oder vielmehr das, was davon übrig war. Einen Korpus. Irgendwie bekommt Julia alles in die Zone, auch die sperrigsten Sachen. Sie will nicht verraten, wie.
Ich glaube, sie hat ein gutes Gefühl für Menschen und weiß instinktiv, wann sie wen bestechen muss. Sie kann außerdem gut Geschichten erzählen und dreist lügen, ohne mit der Wimper zu zucken. Vielleicht sind es auch ihre kräftigen Beine, die sie sicher von einer Zone zu der anderen tragen und mit denen sie im Notfall schnell weglaufen kann. Ja, obwohl sie klein ist, kann sie unglaublich schnell laufen. Ihre Haare fallen ihr dabei ins Gesicht, aber das ist ihr egal. Wenn sie zum Stehen kommt, macht sie sich nicht einmal die Mühe, sie nach hinten zu streichen.
Ich weiß nicht, was sie die Gitarre gekostet hat. Sie hat sie mir geschenkt, als sie uns einmal im Sommer besucht hat. Meine Mutter hat Kartoffeln aus dem Garten gekocht und Julia hat gerufen: „So gute Kartoffeln bekommt man sonst nirgendwo! Behalt das Ding und spiel mir bald was drauf vor!“
Ich habe die Gitarre am Hals festgehalten und gedacht, ich lasse sie nie wieder los.

Das ist jetzt zwei Jahre her. Bald habe ich alles zusammen, was ich dafür brauche.  Mühsam habe ich mir die fehlenden Teile beschafft, eins nach dem anderen. Zuerst habe ich ein Bild einer vollständigen Gitarre gebraucht, um zu sehen, was alles fehlt. Dafür bin ich einen ganzen Tag ins nächste Dorf gelaufen und dort in die Schulbibliothek eingestiegen. Das war einfach, die Fenster sind seit Jahren eingeschlagen. Die Bücher sind staubig, und trotzdem erstaunlich gut erhalten.
Ich habe Glück gehabt, ein Bild gefunden und es aus dem Buch herausgerissen. Dann habe ich das Buch zurückgestellt. Ich war erst am nächsten Morgen wieder zu Hause. Meine Mutter hat sich Sorgen gemacht und war sehr wütend, aber was sein muss, muss sein. Von da an habe ich die Ersatzteile gesucht. Manchmal habe ich Wochen gebraucht, um eine passende Schraube zu finden. Statt mit Werkzeug habe ich mit Messern und alten Gabeln gearbeitet. Etliche Male habe ich mich geschnitten. Ein Schnitt am kleinen Finger hat so tief gesessen, dass er jetzt manchmal noch wehtut. Der Finger ist auch ein bisschen steif geworden. Ich hoffe, das hat keinen Nachteil, wenn ich die Gitarre eines Tages tatsächlich spielen werde.

Manchmal frage ich auch Julia nach Ersatzteilen. Aber sie kommt immer unangekündigt, taucht manchmal monatelang nicht auf. Inzwischen habe ich schon vier von fünf Saiten, zwei aus Kunststoff, eine aus rostigem Metall. Ich könnte sie aufziehen, nur ich habe Angst, dass sie nicht klingen. Dass der zusammengeflickte Steg zu schief ist, dass die notdürftigen Schraubenköpfe keinen Zug aufbauen oder dass sofort eine Saite reißt.
Ich weiß auch nicht, wie ich die Gitarre stimmen soll. Ich habe darüber gelesen, aber ich weiß nicht wirklich, wie ein G oder ein A klingt. Ganz zu schweigen von Akkorden und Grifftechniken. Also werde ich Julia einen ganz besonderen Auftrag geben müssen. Das wird dauern. Sie war gerade erst hier, und wer weiß, wann sie wiederkommt.

Ich habe auch immer Angst, dass sie gar nicht mehr zurückkehrt, weil sie erwischt wird. Diese Angst ist jetzt besonders groß Sobald sie wieder da ist, werde ich ihr sagen, dass ich einen Menschen brauche. Einen Musiker. Oder jemanden, der zumindest schon einmal eine richtige Gitarre in der Hand gehabt hat. Ich weiß, dass es in unserer Zone keinen gibt. Zuerst habe ich gedacht, dass Julia diesen Menschen über die Grenze zu mir wird bringen müssen. Dann wurde mir klar, dass das keinen Sinn macht. Keiner würde sich darauf einlassen, außer für viel Geld, und das habe ich nicht. Ich habe nur Kartoffeln, Möhren und Obst aus unserem Garten.
Nein, ich werde Julia bitten müssen, mich über die Grenze zu bringen. Sie wird nicht nein sagen, Wenn jemand das versteht, dann Julia. Ich werde mich wegschleichen und einen Brief hinterlassen. Meine Mutter wird sich schreckliche Sorgen machen, aber was sein muss, muss sein.

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