Kümmern kommt von Kummer
von Anni Stiegler
Sie lag im hohen Gras. Mit jedem sanften Windhauch bewegte sich helles Laubwerk über ihr, ließ ein Stück blauen Himmels frei, und Sonnenlicht berührte ihre Haut. Leicht fühlte sie sich, eins mit der Natur und geborgen in paradiesischem Wohlbehagen.
Über ihr war dieser kleine Engel. Ein Mädchen im Alter von etwa fünf Jahren. Es kletterte höher und höher. Geschickt umfassten die kleinen Hände einen Ast nach dem anderen. Lauter junge Triebe glänzten zartgrün und neu. Aber unter dem Grün erkannte Karla Zweige, schwarz und verdorrt. Morsches Astwerk. Das sah sie jetzt. Ohne abzusetzen kletterte das Kind wie beflügelt in die immer lichter werdende Baumkrone.
Das war doch gefährlich. Waren es die blonden Locken von Steffi? Sie wollte das Gesicht sehen. Anna, vielleicht war es Anna. Sie sah das Unterhöschen, die nackten Knie, die weißen Strümpfe, nein, Anna konnte es nicht sein. Wie hätte sie plötzlich klettern können.
«Kind!», wollte sie rufen. Spürte denn nur sie die drohende Gefahr? Ist sie die Einzige, die das Kind aufhalten kann? Man musste es rufen, warnen! Es wird abstürzen. Wie lange finden die kleinen Füße noch Halt? Der geblümte Rocksaum hängt fest, das feine Gewebe zum Zerreißen gespannt, die Zweige werden nachgeben. Sie muss das Kind retten, es wird in die Tiefe stürzen. Sie beugte sich vor, wollte aufstehen. Die Beine wollten nicht. Wie lange noch hielten die Zweige?
Ein knackendes Geräusch, ein Ast zerbarst und noch einer. Karla riss den Mund auf.
«Hilfe! Warum hilft denn niemand?»
Nur ein tonloses Krächzen brachte sie hervor. Ein brüchiges kampfmüdes Aufbegehren. Tatenlos zusehen? Jemand umklammerte sie, sie konnte ihre Arme nicht bewegen. Jemand zwang sie nieder. Was lähmte sie?
Sie starrte auf das Kind, und plötzlich war sie das Kind. Sie war in Gefahr. Sie war es, die am Abgrund stand, die die Katastrophe vor Augen hatte, die Wucht des Aufpralls nicht überleben konnte. Sie war die, die Hilfe brauchte. Ihre Hände waren gebunden. Sie konnte nichts mehr tun. Sie musste loslassen, loslassen, damit es endlich vorbei war. Es? Was war es?
«Kümmern kommt von Kummer!», hörte sie sich sagen.
«Was für ein Quatsch», dachte sie, während sie langsam zu sich kam. Den Hinterkopf in die Kissen gestemmt, die geballten Fäuste an die Oberschenkel gepresst, lag sie da.
«Kümmere dich mal um dich!», hatte ihre Mutter gesagt. Die hatte gut reden.
Karla holte tief Luft gegen die Enge in ihrer Brust. Sie hatte Pflichten, sie hatte Verantwortung. Sie bewegte die Zehen, wollte die Füße anheben, die Beine. Sie nahm die Hände vors Gesicht, massierte Stirn und Schläfen. Wie gerädert fühlte sie sich. Und wenn sie es war, das Kind, um das sie sich kümmern musste?
Die Nacht war vorübergegangen, wie all die Nächte in den Jahren zuvor. Noch schlief ihre Tochter.
Sie würde weiterkämpfen. Annas Leben hing nun einmal an ihrem seidenen Faden, und nur sie konnte sich kümmern.
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