Lernfieber
von Parker Heimlich
Der Andrang war groß. Die Stimmung am Tiefpunkt. Sonja und zwei Dutzend Patienten quetschten sich in ein Treppenhaus.
„Hier möchte ich auch keinen Umzug machen“, sagte ein betagter Mann und wich geradeso dem Ellenbogen eines anderen Patienten aus, der sich über die anachronistischen Sprechzeiten des Neurologen ausließ. „Selbst der dumme HNO hat schon auf.“
Sonja löste sich kurzerhand aus der Menschenschlange, als sie den alten Mann einen handgeschriebenen Zettel mit dem Schild an der Glastür des Arztes vergleichen sah. „Kann ich Ihnen helfen?“
„Sitzt da ein Neurologe drin?“, fragte er und deutete mit der Hand ein kleines Kind neben sich an.
Sonja gluckste. Der Arzt war wirklich nicht der Größte. Aber der kompetenteste. „Sie sind hier richtig“, bestätigte sie.
Der alte Mann nickte vorsichtig, als liefe er Gefahr, seine letzten Haare dadurch zu verlieren, und ließ die Hand vom Kopf des Kindes wieder sinken.
„Hier“, sagte Sonja und reichte ihm zusätzlich eine Packung Taschentücher. Sie hatte ihn schon schniefen hören, als er zwei Stockwerke tiefer herumgekraxelt war.
„Sehr aufmerksam“, murmelte der Mann. Er zupfte mit Daumen und Zeigefinger an einem Tuch, ließ die restlichen Finger gespreizt.
„Nehmen Sie die Packung. Ich schenke sie Ihnen“, meinte Sonja.
Er machte die Andeutung einer Verneigung nach alter Herren Sitten und grinste.
„Hey, Sonja“, drang es durch die wartende Menge. Mira wuselte sich durch das Getümmel. Erntete den spöttischen Blick einer Frau, die erbost darüber war, dass Miras Handgelenk sich in der Trageschlaufe ihrer Handtasche verfangen hatte.
„Donnerwetter. Haben uns ewig nicht gesehen.“
„Mindestens ein Jahr“, bestätigte Sonja und trat von einem Fuß auf den anderen. Sie vermisste die Sitzbank, die hier mal stand.
Nach einem kurzen Smalltalk machte Mira sie auf einen dunklen Streifen an ihrem Schuh aufmerksam. „Sieht noch frisch aus.“
„Mag sein“, sagte Sonja und deutete mit dem Daumen hinter sich zum Fenster hinaus. „Die dämliche Baustelle.“
„Würden diese Spitzbuben so arbeiten, wie sie gaffen, wär schon längst alles fertig.“ Mira entfernte ein paar Krümel des abgeblätterten Putzes aus ihrem Haar und schaute verdrießlich zur Decke.
Sonja zuckte mit den Schultern.
Mira kramte in ihrer Handtasche herum. „Damit gehen wir dem Streifen an den Kragen.“ Sie hielt ein Taschentuch in der Hand und befeuchtete es mit ihrem Speichel, den sie durch ihre Zahnlücke fließen ließ.
„Oh, nein. Schon gut.“ Sonja wies ihre Hand mit dem Taschentuch ab. Der alte Mann war noch in unmittelbarer Nähe gewesen, und Sonja befürchtete, dass dieser Bedenken bekommen könnte, da er ihre gesamte Taschentuchpackung in Beschlag genommen hatte.
Mira spielte sich fast wie eine sorgsame Mutter auf. „So kannst du doch nicht rumlaufen. Gib her den Fuß.“
„Ist wirklich schon ok“, wiederholte Sonja.
Mira ließ sich auf ein Knie herab, stieß mit ihrem Po einen anderen Patienten an und umschloss Sonjas Fußgelenk so fest wie ein Schraubstock.
Angewiderte Blicke schossen Sonja entgegen, als sei sie ein Sklaventreiber. Nur der alte Mann studierte die Sprechzeiten des Arztes auf dem Schild. Sie griff nach dem Handlauf, bekam rote Ohren und warf ein gequältes Grinsen in die Menge.
„Voila“, seufzte Mira und tauche wieder auf. Blies sich eine Strähne aus dem Gesicht.
„Danke“, sagte Sonja, so unsicher wie noch nie in ihrem Leben.
Mira putzte sich die Finger mit dem Tuch, streckte die Hand zur Kontrolle ins Sonnenlicht. „Heute Abend ist die Party bei Kolibri.“
„Hab ich gehört.“
„Kommst du auch?“
Sonja schüttelte den Kopf.
„Ach, Moment“, sagte Mira und lächelte, dass ihre Zahnlücke zu sehen war. „Du kommst nicht wegen diesem Typen. Diesem langhaarigen Bombenleger, den du damals nicht rangelassen hast.“
„Mira“, zischte Sonja. „Geht das etwas leiser?“
Jetzt schaute selbst der alte Mann zu ihnen.
„Was denn? Du hast es doch richtig gemacht. Ich hätte mein erstes Mal auch lieber mit Tom Cruise verbracht, als mit diesem überheblichen Motocrossfahrer. Aber den Florentiner Gürtel musst du trotzdem bald mal ablegen.“
„Ich muss vor allem für mein Studium lernen.“ Sonja senkte ihre Stimme. „Meine Eltern machen mir die Hölle heiß, wenn ich das nächste Modul verhauen sollte.“
„Wie langweilig. Falls doch, du weißt ja, wo Kolibri wohnt.“
„Wieso wird der eigentlich so genannt?“
„Irgendjemand hat wohl mal festgestellt, dass er zu den Säugetieren mit dem kleinsten Penis gehört. Whatever. Seine Partys sind dafür umso größer.“
„Fabelhaft.“
„Ich werd dann mal weiter. Muss zum Ohrenarzt.“
„Klar.“
Sonja war dankbar dafür, dass der kleine Neurologe einer von den unkomplizierteren Männern war. Er hatte ihr nach einer angemessenen Wartezeit das Rezept gereicht und viel Erfolg für die anstehende Facharbeit gewünscht. Über den kleinen Schleichweg, den sie vor kurzem entdeckt hatte, konnte sie sogar noch etwas an kostbarer Zeit dazugewinnen, die sie ins Lernen für die Höllenklausur investieren könnte. Wer in drei Teufelsnamen hatte ihr überhaupt Humanbiologie schmackhaft gemacht? Richtig, der langhaarige Bombenleger, von dem Mira sprach. Was für ein Reinfall.
Eine halbe Stunde lang hatte sie ihre Nase in den Büchern versenkt, da klingelte ihr Telefon. Das Lächeln, das gerade noch ihren Mund aufgrund einer Illustration, welche sie an den alten Herrn aus dem Praxistreppenhaus erinnerte, umspielte, verflog, als ihre Nachbarin Clara hysterisch von einem gestressten Vormittag beim Kinderarzt erzählte.
„Roseola Infantum“, zitierte Clara den Kinderarzt. Wahrscheinlich eher das Internet.
„Wie bitte?“ Sonja hatte neben Claras Gebrabbel noch einen Satz in ihrem Buch nachgelesen, den sie aber schon vor dem Telefonat nicht verstanden hatte. Lesen und Reden hat noch nie geklappt, dachte sie. Warum also ausgerechnet heute? Sie schlug ihr Buch zu.
„Liza hat ein Drei-Tage-Fieber. Wir sind allerdings schon beim vierten Tag angelangt.“
„Oje“, sagte Sonja und legte das Buch auf den Tisch.
„Das noch viel größere Probleme ist, dass ich heute eine Nachtschicht in der Spielhalle schieben muss. Könntest du auf die Kleine aufpassen? Der Arzt hat ihr so ein Mittelchen gegeben, dass sie gut schlafen und das restliche Fieber sinken lässt. Sie ist also quasi gar nicht anwesend. Körperlich zwar, aber … du weißt schon.“
Sonja hörte den strengen Ton ihres Vaters, als stünde er neben ihr. „Wir zahlen keinen Unterhalt mehr, wenn du nicht endlich was auf die Reihe bekommst.“ Trotzdem packte sie ihre Sachen zusammen und ging rüber.
Clara führte sie in die Küche. Unterrichtete Sonja noch einmal darüber, wo sie was finden konnte. Dabei versuchte Sonja es einfach zu überhören, dass ihre Nachbarin sie immer Tante Sonja nannte, wenn sie sie brauchte.
„Das weiß ich doch alles. Ist doch nicht das erste Mal, dass ich auf die Kleine aufpasse.“
Clara starrte auf Sonjas Jutebeutel. „Was hast du denn da alles mitgebracht?“
„Ach, das sind meine Lernsachen. Das ist doch ok, oder?“
„Solange es keine pornographischen Inhalte hat, die Liza sehen könnte.“
„Was glaubst du denn, was ich studiere?“
„Gibt doch alles Mögliche heutzutage.“
„Eine Frage hätte ich aber noch.“ Sonja schaute sich um. „Hast du die Windeln verlegt?“
Clara machte eine wegwerfende Geste mit der Hand, die sie gerade durch den Jackenärmel gezwängt hatte. „Die Zeiten sind vorbei. Sie geht mittlerweile aufs Töpfchen.“
„Das ging aber schnell mit einem Mal“, entgegnete Sonja und erinnerte sich daran, dass ihr letzter Einsatz noch gar nicht so lange her gewesen war. „Klasse. Dann viel Spaß heute Nacht.“
„Werd ich wohl haben. Danke dir, Tante Sonja.“
Sonja biss von ihrem Brötchen ab, das sie sich mitgebracht hatte, und schaltete alle Geräte in der Wohnung aus, die auch nur den leisesten Mucks von sich geben konnten. Drei Bissen und zwei Buchseiten später, hörte sie Liza jaulen.
„Was ist denn los, Süße?“
„Da stand jemand hinter der Gardine.“
„Du hast nur schlecht geträumt.“
„Ich glaube, das war Papa. Papa war schon lange nicht mehr da.“
Sonja wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie hatte keine Ahnung, wie und ob Clara ihrer Tochter die Scheidung beigebracht hatte. „Da ist niemand. Ich pass schon auf dich auf.“
Eine knappe Stunde später hatte Liza erneut geschrien. Dieses Mal klebte ein Flughörnchen an der Decke. Sonja tupfte ihre schweißnasse Stirn mit einem feuchten Lappen ab und nahm sie mit ins Wohnzimmer. Sie quetschten sich gemeinsam auf das kleine Sofa, und Sonja maß ihre Körpertemperatur. Anschließend googelte sie selbst nach den Möglichkeiten zur Eindämmung dieses Drei-Tage-Fiebers. An Lernen war überhaupt nicht mehr zu denken. Die Kleine glühte wie ein Heizofen. Clara war nicht zu erreichen. Als hätte sie selbst das Fieber gepackt, sah Sonja ihre Mutter mit gesenktem Kopf vor der Arbeitsplatte in der Küche stehen. Enttäuscht über die bisherigen Leistungen ihrer Tochter.
Sonjas Telefon klingelte, während sie Liza gerade die durchnässte Unterhose wechselte.
„Von wegen Töpfchen, wie soll das fiebernde Mädchen dort bitte hinkommen?“, schimpfte Sonja noch, als sie bereits in der Leitung war.
„Ja, du solltest wirklich herkommen.“ Es war Mira.
„Woher hast du meine Nummer?“, fragte Sonja und verzog das Gesicht, durch den Lärm, der im Hintergrund herrschte.
„Deine Freundin ist mit Kolibri auf’s Zimmer verschwunden, ist das zu glauben?“
„Was? Welche Freundin?“
„Hä?
„Welche Freundin?“
„Na, diese Carla.“
„Ich kenne keine Carla.“
„Doch, die schwärmte von dir und ihrer Tochter.“
„Du meinst Clara.“ Sonja legte die Stirn in Falten. Verbot es sich selbst, den Kopf zu schütteln, in der Angst, sich dadurch von dem Dreck zu befreien, der ihr die klare Sicht auf die Dinge verwehrte. Sie wollte die Wahrheit gar nicht kennen. Sie wünschte sich sogar die Sehbehinderung des alten Mannes, der ihr morgens beim Neurologen begegnet war.
„Sie hat ihr Handy entsperrt auf dem Wohnzimmertisch liegen gelassen, als Kolibri sie überfallen hat. Da dachte ich mir, ich ruf mal durch“, sagte Mira, und im Hintergrund zerschellte ein Glas.
„Ich hab so einen Durst“, plärrte Liza vom Sofa aus.