Leyla

von Jens Gelbhaar

Heute weiß ich, das Bild von dem komischen alten Knacker über der Tafel in der Stinkeklasse, das war ein Bild von Kemal Atatürk. In der Stinkeklasse waren nur Türkenkinder, da durften wir nicht rein. Den Türken vermieteten sie 1973 nur die schäbigsten Altbauwohnungen, ihre Blagen wurden in die Stinkeklasse gestopft und separat auf Türkisch unterrichtet. Ich hatte gleich doppelt Glück. Denn das Mädchen mit dem superlangen krausen braunen Haar, dessen Namen nie einer wusste, war nicht aus der Türkei, sondern aus Tunesien, saß direkt an der Bank vor mir, und dieses wundervolle, superlange krause braune Haar roch ganz bezaubernd nach Ichweißnichtwas, sagen wir: nach Sommer.

Zugegeben, ich hatte mich auch schon mal in eine Lehrerin verliebt. Schon in der zweiten Klasse, nicht erst jetzt, in der dritten. Diese Lehrerin hatte auch schönes Haar, aber doofe Themen, wenn sie uns kleine Aufsätze schreiben ließ. Also schrieb ich immer, was mir gerade so einfiel. Und die Lehrerin las das und war überrascht und lachte mich an, und ich musste meine Geschichten laut der Klasse vorlesen. Diese Lehrerin entdeckte den Schreiber in mir. Daher nehme ich mir auch die Freiheit, dem tunesischen Mädchen, das kein Wort Deutsch verstand und keinen Namen zu haben schien, einen zu geben. Einen Namen. Gehört sich so. Man sagt doch nicht „Dingsda“ zu jemand, in den man verliebt ist.

Obwohl: gesagt hab ich nix. Ich konnte kein Tunesisch. Wir Kinder konnten alle nur ein türkisches Wort. Eşek. Esel. Das riefen wir den Türken immer hinterher, wenn wir mal einen auf der Straße sahen. Damit wäre ich aber bei dem tunesischen Mädchen so oder so kein Stück weiter gekommen. Ich saß also hinter ihr und schaffte es irgendwie, dem Unterricht zu folgen, obwohl meine Nase sich so lang anfühlte wie die von Pinocchio und das Riechen tunesischen Mädchenhaars sämtliche mir zur Verfügung stehenden Sinne und geistigen Energien in Anspruch nahm. Ich roch den Duft diesen Haars und war in der Lage, alle anderen Gerüche im Klassenraum auszublenden. Den Geruch billigen Putzmittels, den Mief von Schweiß und Fürzen anderer Jungs, die Aromen von Leberwurst und Schmierkäse, die unter den Bänken aus Butterbrotdosen strömten, den Holzgeruch der Schulmöbel…
Ich roch das Haar des tunesischen Mädchens, es war ein warmer Strom, der mich anzog wie Mistral, und weil ich längst schon auf Opas Globus nachgeguckt hatte, wo Tunesien liegt, saß ich im schönsten Höhenrausch auf einem fliegenden Teppich und schwebte über die Suqs Marokkos, Algeriens und Libyens hinweg, über Gibraltar und das Atlasgebirge auf Tunesien zu und hätte mich dabei wohl zum Enkel Karl Mays entwickelt, hätte mich nicht irgendwann die schrille Pausenschelle vom Teppich geschmissen.
Alle Kinder stürmten in einem Heidenlärm nach draußen. Außer Leyla, dem tunesischen Mädchen, das sehr unsicher war und wartete, bis fast alle gegangen waren und dann erst selbst langsam zur Tür ging. Mit meinem Riechkolben in ihren dunklen Locken. Ich konnte nicht von ihnen lassen. Dabei wusste ich durchaus, was mir außer dem Haar an Leyla so gut gefiel. Sie guckte so traurig und war so still.

Ich war allergisch gegen den Lärm der Schule. Es war furchtbar, wenn alle Kinder durcheinander plapperten und schrien und kreischten. Mit ihrem Schweigen war Leyla eine Verbündete gegen den Krach der Welt. Diese Welt war ziemlich bescheuert, weil anscheinend niemand Leyla Deutsch beibrachte, nicht mal unsere Lehrer, aber das war mein Glück. Leyla schwieg und ich schwieg solidarisch mit. Wenngleich sich nicht mal unsere Blicke trafen. Ich war nicht schüchtern! Aber Leylas Kopf war immer geneigt, sie schien versunken, blickte nie auf, und da stört man doch nicht, wenn jemand derart bei sich selbst ist. Doch hätte ich gern gewusst, was es war, das sie so traurig zu machen schien. Ich hatte eine Aufgabe, viel bedeutender und kniffliger als die Hausaufgaben: Leyla aufzuheitern! Aber wie?

Ich hätte ihr Lieder der Les Humphries Singers vorspielen können, die damals aus allen Radios schwappten. Aber es gab in der Schule kein Radio. Ich hätte sie durchs Dorf führen und ihr manches zeigen können. Die Werkstatt des alten Sattlers, der meinen Großeltern schon mal Sessel und Sofas neu bezog. Die Taubenzüchterkneipe, in der am Wahltag der ganze Ort zusammenkam. Das Schaufenster von Frau Kampens Spielzeugladen! Das Brillengeschäft, in dem man auch Fotos entwickeln lassen konnte. Die Schleuse am Rhein. Unsere verbotenen Lieblingsspielplätze: Baustellen! Das Tor des Stahlwerks, in dem dreitausend Männer arbeiteten.
Aber ich wusste ja nicht einmal, wo Leyla wohnte. Ihre Eltern holten sie jeden Tag von der Schule ab, und die tunesische Familie verschwand mit dem Bus.
Wie hätte ich Leyla hinterher nach Hause bringen sollen!? Der Gepäckträger meines Fahrrads war abgebrochen. Mir blieb nur, in den Pausen immer möglichst nahe der stillen Ecke des Schulhofs zu stehen, in der Leyla auf einer Bank saß und Kakao trank. Man konnte von hier aus bestens zusehen, wie sich die Kinder an der Grenze des zweigeteilten Schulhofs mit Kieselsteinen bewarfen, Katholiken gegen Protestanten. Ich hätte gern gewusst, zu wem Leyla hielt. Es hieß, sie sei in keiner Kirche. Warum, wusste niemand. Leyla war, wie es schien, voller Geheimnisse. Und sie war hübsch. Das waren noch mehr gute Gründe, verliebt zu sein. Im Kindergarten hatte ich mich einmal in eine Sabine verliebt, nur weil sie Warzen an der Hand hatte, und deshalb niemand mit ihr spielen wollte. Jetzt machte ich riesen Fortschritte!

Die meisten anderen Mädchen waren doof.
Das begann schon mit ihren Namen. Brigitte, Ellen, Karin, Claudia, Susanne. Bohnenstangen mit rotem oder blondem Gestrüpp auf dem Kopf, große Fresse und nix dahinter, ständiges Gekicher, Gummitwist und blöde Sprüche!
Leylas Gesicht, ich habe es mir oft genug, wenn ich glaubte, sie merkte es nicht, angesehen, es war rund und lieblich, es hatte weder Sommersprossen noch eine Brille. Und als der Tag kam, als Leyla einmal, dieses eine Mal nur, in genau so einem heimlichen Moment meinen Blick erwiderte, blitzte für den Bruchteil einer Sekunde so etwas wie ein Lächeln auf, und ich konnte in einer schnurgeraden Reihe strahlend weißer Zähne eine Lücke erkennen, die ganz bestimmt gar keine war, sondern sicher nur eine Rosine, die beim letzten Kuchenessen da hängen geblieben war.
In diesem Moment wurde ich Captain Kirk, der auf seinem Raumschiff immer so gut mit Frauen umgehen konnte, und wurde der edle Winnetou, aber vor allem Kara Ben Nemsi Effendi, und tat, ohne dass ich dafür auch nur das geringste bisschen Mut aufbringen musste, das Selbstverständlichste. Ich rückte ganz nah an Leyla heran. Fasste in ihr Haar. Legte ein Ohr frei und flüsterte dort hinein:
„Du…“

In genau dem Moment, als die schrille Schelle wieder ertönte. Und Leyla sich erhob. Vom Duft ihres Haars hatte ich aber eine so hohe Dosis eingeatmet, dass es für ein ganzes Leben reichte. Reichen musste. Denn dies war Leylas letzter Tag in meiner Schule. Ihre Eltern zogen mit ihr woanders hin. Nach nur drei Monaten.

Das ist nun mehr als vierzig Jahre her. Es gibt keine Stinkeklasse mehr. Kemal Atatürks Konterfei sieht man bei großen Fußballereignissen mitunter auf riesigen roten Stern-und-Halbmond-Flaggen auf den Balkonen hübscher Reiheneigenheime wehen. Manche dieser Claudias, Karins und Ellens wurden gegen jede Erwartung doch sehr schöne Frauen. Ich hatte im Laufe meines Lebens das Vergnügen, zwei oder drei von ihnen intensiver kennen zu lernen.
Jedes Mädchen riecht nach Sommer, wenn du dich in sie verliebst.
Plötzlich hast du einen fliegenden Teppich unterm Arsch, und die Welt ist grenzenlos, nur weil SIE da ist.
Ich habe jeder meiner Bräute gleich zu Beginn immer meine liebsten Plätze gezeigt. Die Schleuse am Rhein. Das Haus, wo Frau Kampens Spielzeugladen war, da ist heute ein China-Imbiss drin. Das alte Fachwerkhaus am Bahnhof, wo in den 70ern ein kleiner persischer Arzt die Herzrhythmusstörungen meiner Oma behandelte. Die Dönerbude am Markt, wo mal ein Uhrmacher war. Die jungen Bäumchen, die auf der großen grünen Wiese wachsen, wo das Stahlwerk gewesen ist. Die Schule, in der Schüler nicht mehr nach Konfession getrennt unterrichtet werden. Schüler sind da überhaupt keine mehr. Aber etliche kleine Mädchen, die Leyla nicht unähnlich sehen.
Manchmal, wenn ich daran vorüber gehe, glaube ich, immer noch den Duft Leylas in der Nase zu haben. Oft aber wird er übertüncht. Weil der gemeine Mob neben den Parolen an den Wänden auch seine Scheiße auf den Stufen vor dem Eingang hinterlässt. Weil Leylas Eltern in meiner Heimat schon fast so ängstlich sind wie in der eigenen.

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