Love is just a four-letter word
Geschichte von Sigune Schnabel
Paul drückte den Rücken fester an die Wand. Die Beine hatte er eingerollt, und er atmete so leise, wie er nur irgend imstande war. Seitdem er nicht mehr sprach, war das sein Lieblingsplatz: der Fußboden unter dem Bett seiner Mutter. Sie durfte nichts davon wissen, sonst würde sie ihn verprügeln. Aber sie war ohnehin nur selten da.
Auf dem Bett gab es manchmal eine tiefe Stimme. Sie sei nur in seinem Kopf, hatte die Mutter gesagt, aber er war sich sicher, dass Stimmen im Kopf nicht so laut waren und vor allem freundlicher. Peter zum Beispiel gab es nur in seinem Kopf, aber er war immer nett zu ihm, spielte mit ihm und erteilte ihm Rat. Mit Peter konnte er sich unterhalten, auch wenn er leise sein musste.
Es klingelte an der Tür. Das kam immer wieder vor, wenn seine Mutter nicht da war. Er durfte zwar nicht öffnen, aber er wusste, dass es nur die Nachbarin war, die ihm Bonbons oder ein Stück Kuchen brachte. Peter kroch vom Bett hervor und stellte sich auf die Fußbank, um durch den Türspion zu blicken. Dann sprang er herunter, um Frau Greve zu öffnen. Sie gab es nicht nur in seiner Vorstellung, aber sie war trotzdem freundlich zu ihm. Mehrmals die Woche stand sie im Türrahmen und fragte ihn Dinge über seine Mutter, doch er wusste nichts davon; selbst wenn er noch spräche, gäbe es keine Antworten darauf, nicht einmal Peter konnte ihm dabei helfen. Mit Peter hatte er nicht aufgehört zu sprechen – das war etwas anderes.
Die Pflanzen in den Töpfen auf den Fensterbänken hatten ihn auch früher schon übertönt, als Paul zu Frau Greve noch gesprochen hatte – zumindest mit einem Achselzucken und ein paar unsicheren Sätzen. Auf den Lippen hatten sich die Laute spitz angefühlt und blau; immer wenn er etwas nicht wusste, waren die Worte unbequem und passten nicht recht über die Kanten der Mundwinkel, aber darauf konnten sie auch nicht liegen bleiben, schließlich wollte er sie loswerden, bevor sie ihre Abdrücke hinterließen. Heute kamen die Worte gar nicht mehr an die Lippen heran.
Jedenfalls waren die Pflanzen in den Töpfen lauter als er, wenn sie Wasser brauchten, aber es handelte sich um eine andere Art es Schreiens, eine, die seine Mutter nicht verstand. Frau Greve verstand diese Art des Rufens.
Der Tag, an dem er aufgehört hatte zu antworten, war wortkarg verlaufen. Wer viel Zeit alleine verbringt, wird ohnehin merken, dass außer Peter und den Topfpflanzen niemand etwas zu sagen hat. Aber von Peters Existenz wusste keiner, also blieben nur die Pflanzen übrig. Je seltener seine Mutter vorbeischaute, desto mehr nahm der Glaube an die Notwendigkeit ab, sich laut zu äußern, ja: sich überhaupt mit Sätzen verständlich zu machen. Es war wie eine Verpflichtung, deren Erledigung nur Paul selbst überprüfte. Dann fiel ihm ein, dass ihm niemand diese Aufgabe erteilt hatte, einmal abgesehen von den Konventionen. Aber Konventionen konnten eigentlich gar keine Aufgaben verteilen.
Paul kroch wieder zurück unters Bett. Er hatte einen farbigen Zauberwürfel mitgenommen. Wenn er es schaffte, die Farben richtig zu ordnen, sodass sich auf jeder Seite nur noch eine befand, würde seine Mutter heute nach Hause kommen. Aber nur, wenn er weniger als zehn Minuten dafür brauchte. Schaffte er es nicht, wäre seine Mutter zwar da, aber auch die dunkle Stimme auf dem Bett, die es nicht gab. Er ließ die Stoppuhr neben sich laufen.