Macht Politik böse?

von Maja Seiffermann

Lisz Hirn, Macht Politik böse? Zehn Trugschlüsse, 2022, Leykam Streitschrift, ISBN: 978-3-7011-8250-3, Leykam Verlag, 95 S., Taschenbuch, 14,00 € (D)

Herzlich willkommen im Jahr 2023; Ein Jahr, in dem die Frage, ob uns trotz des schlechten Überblicks politisches Interesse geschweige denn Verständnis zugemutet werden darf, legitim ist.

Willkommen in einem Jahrzehnt, in dem die sozialen Medien die vierte Gewalt eines Systems darstellen, das wir Demokratie nennen. Willkommen in der Zeit, in der wir uns für dieses System einsetzen, aber nicht einmal wissen, wie fluid es zu interpretieren ist.

In einer Welt, in der wir Medien nicht unterschätzen dürfen, da sie zwar keine Entscheidungsinstanz sind, aber den zentralen Ort für die Interpretation der Entscheidungen darstellen.

Willkommen in einer widersprüchlichen Welt, in der wir moralische Ansprüche an die Politik stellen, aber akzeptieren, wenn die Wahrheit zu einem ökonomisch lukrativeren Sachverhalt umformuliert wird.

Willkommen in der Welt, in der wir trotz Neologismen und einem Haufen scheinbarer Mühe nicht allen gleichviel Respekt erweisen und noch immer Minderheiten auf der Strecke lassen.

Teuerungen, Klimakrise und Krieg in der Ukraine stellen noch einmal eine besondere Lage dar, in der wir uns eigentlich auf die Politik verlassen möchten. Und doch ist das aktuelle Politikverdrossenheitsphänomen bei vielen scheinbar nicht zu beheben. Vor allem Krisenzeiten aber zeigen, welche Gefahren dieses Verhalten eigentlich birgt.

Ist es also spätestens 2023 eine unausgesprochene Pflicht, politisch (aktiv) zu sein?

Was bedeutet es heutzutage überhaupt, politisch zu sein oder die Demokratie mitzugestalten? Denn Hirn zufolge könne die einzige wirksame Aktivität von Bürgern auch sein, die Demokratie als Protest zu verwirklichen…

Zwischen Krieg, Erdbeben, sozialer Ungerechtigkeit, dem Klimawandel und politischer Verwirrung im eigenen Lande, versucht Lisz Hirn einen Funken Klarheit zu schaffen und zehn Trugschlüsse über die politischen Zustände aufzulösen.

Sie sagt:

„Wer also den politischen Sittenverfall bedauert, sollte zuerst wissen, auf welchen Trugschlüssen das eigene politische Verständnis beruht.“

 

Daher werden im folgenden drei Themenfelder aufgegriffen und besprochen.

 

Themenfeld 1: Was hat die Moral in der Politik verloren?

Lisz bedient sich an Kants Definition von politischer Moral, der diese als die praktische Anwendung der Ethik definiert, mithilfe der ein verbindliches Normensystem innerhalb einer Gesellschaft festgeschrieben wird. Sie soll das Gefühl von richtigem Handeln vermitteln und trotz ihrer subjektiven Aufnahme für alle gleichermaßen gelten.

Nicht zu leugnen ist ja, dass wir moralische Erwartungen an politisch Handelnde stellen. Wir erwarten, dass unsere Regierung Krisenländern finanzielle Unterstützung zusichert, wir erwarten von ihr die Rettung der Welt oder sozialverträglichere Maßnahmen auf Kommunalebene.

Die politische Moral ist also die Sammlung an „Prinzipien, Normen und Werte(n) (…), die in den Augen der Bürger*innen als Bewertungs- und Legitimitätsgrundlage des politischen Systems dienen.“

Je höher also der Konsens über diese Prinzipien und Werte innerhalb der Gesellschaft, desto höher auch der Grad der Legitimität.
Die Frage ist bloß, wo genau diese Übereinkunft passiert und wie beispielsweise sich ein Land mit vielen verschiedenen Kulturen oder politischen Ausrichtungen wie Deutschland auf so einen Wertekompromiss einigt oder eben nicht. Und was das wiederrum für einen Einfluss auf die Gesellschaft und die Akzeptanz der politischen Entscheidungen hat.

Dennoch kann nicht ausgeschlossen werden, dass die politische Moral nicht zugleich auch als „Selbststilisierung“ missbraucht wird. Durchaus bekannt ist ja, dass Politiker*innen dieses Werkzeug gerne nutzen oder ihre Handlungen durch den Verweis darauf, andere würden genauso handeln oder begingen dieselben Fehler, relativeren.

Hirn arbeitet gut heraus, dass es im Grunde unmöglich ist, stets das Richtige zu tun und dass die Erwartungen an die Vertreter des Volkes nicht immer die an ein moralisches Vorbild sein können. Denn das, was in den Augen der breiten Masse moralisch richtig wäre, gefällt nicht immer. Zudem können Entscheidungen gegen Interessen einer Gruppe getroffen, aber trotzdem im Sinne eines moralischen Anspruchs sein.

Deshalb ist auch diese Aussage richtig: „Wo die Moral fehlt, muss das Gesetz einspringen.“

Wir müssen allgemein strenger zwischen Legalität und Moralität unterscheiden, und dass, obwohl Gesetze ja auch irgendwie moralischen Standards anderer entsprungen sein müssen.

Schlussendlich ist und bleibt Moralität etwas, das schlecht durch staatliche oder mediale Instanzen erzwungen werden kann und deshalb Sache des Individuums bleibt.

Dennoch ist es Hirn zufolge ebenfalls nicht richtig, wenn die Politik die Verantwortung jedes einzelnen in Krisenzeiten „beschwört“ wie zum Beispiel im Lockdown. Das wirke nämlich ideologisch, sobald sie verschleiert, dass die Verantwortlichen eigentlich nur vor einer endgültigen Entscheidung Halt machten.

 

Themenfeld 2: Stelle andere sprachlich nicht so dar, wie du nicht wollen würdest, dass man dich darstelle.

2023 hat den unmöglichen Anspruch an sich selbst, es allen recht zu machen. Wie bereits erwähnt, können Entscheidungen (wie z.B. das altbekannte Gendern) im Sinne der einen Gruppe mit den Interessen einer anderen kollidieren.

Es ist unausweichlich geworden, in moralische Konflikte zu geraten. Genau diese überall lauernden Fettnäpfchen sind Grund zu den regen Diskursen, die uns umgeben.

Laut Hirn reicht es daher auch nicht, die goldene Regel auf den Sprachgebrauch anzuwenden: „Stelle andere sprachlich nicht so dar, wie du nicht wollen würdest, dass man dich an ihrer Stelle darstelle.“

Es reicht also nicht zu überprüfen, ob man den eigenen Sprachgebrauch gegen sich gerichtet akzeptieren würde. Das führe nämlich nur dazu, dass wir das akzeptieren, was uns subjektiv nicht verletzt.

Auch Neologismen und Euphemismen lösen die Ursache von Problemen nicht, sondern verschieben das Problem. Neuschöpfungen und Euphemismen sind vor allem in der Politik leichter zu ertragen (z.B. Wir sind nicht so), „historische Kontextualisierung“ aber halte uns zu sehr vor Augen, dass wir doch einmal Sünden begangen haben.

Das Problem ist eben das gleiche wie mit der Moral: Das subjektive Verständnis von Dingen.

Genau aus diesem Grund ist es vor allem bei sprachlich geprägten Sachverhalten ein Problem, Dinge moralisch richtig zu sagen. Die AfD beispielsweise nutzt das aus und lädt Themen moralisch auf anstatt eine Lösung auszuarbeiten. In ihrem Falle reicht es dann, Stellung zu beziehen und sich mit Aussagen beliebt zu machen, anstatt zu riskieren, sich mit einer Lösung beim Volk unpopulär zu machen.

 

Themenfeld 3: Lockdown für die Wissenschaft?

Bei der ganzen Verwirrung und bei all den Dingen die schlecht laufen sowie die Entscheidungen, die wir nicht mit unserem Gewissen vereinbaren können, rechtfertigen durchaus die Stimmen, die insbesondere in Krisenzeiten immer lauter werden und fragen, wofür wir denn eigentlich Politiker*innen und keine Expert*innen in den Parlamenten sitzen haben.

Hirn erklärt uns aber den signifikanten Unterschied zwischen Wissenschaft und der Subjektivität der Politik: Wissenschaftler*innen sind der Wahrheit verpflichtet. Eine Erkenntnis gilt unabhängig der Resonanz anderer und kann jederzeit falsifiziert werden. Die Politik darf und kann sich die Wahrheit zurechtbiegen und am Ende eine angenehme Wahrheit auf dem Präsentiertisch parat halten.

Die Pandemie hat uns jedoch gezeigt, wie sinnvoll und durchführbar die Kooperation von Wissenschaft und Politik ist. Trotzdem beweisen die letzten Jahrzehnte, dass die Wissenschaft oft nur dann herangezogen wird, wenn die Disziplin einen Nutzen für die Politik hat. Forschungsfelder wie die Wirtschaft werden beispielsweise überdimensional gefördert, andere mit weniger Nutzen hingegen weisen massive Finanzierungsdefizite auf.

Und so bleibt die Politik oftmals diejenige, die die Wissenschaft in den Lockdown schickt, wenn sie gerade nichts Passendes zu bieten hat.

Und genau so werden wir uns wohl mit den Volksvertretern zufrieden geben müssen. Was selbstverständlich nicht bedeutet, dass wir tatenlos zusehen, wie sie Dinge tun, die an unserem Moralbefinden kratzen.

Wir müssen bloß einen Weg finden, gemeinsam mit der (politischen) Welt umzugehen.

 

Abschließende Meinung zum Buch 

Ein Staat ist mehr als ein Unternehmen und ein Politiker mehr als ein Manager, Bürger kann man nicht einfach feuern, wenn sie ihren Job nicht erfüllen

Und vielleicht ist das auch besser so. Zugegeben, wir verstehen nicht alles, was in der Welt vor sich geht und daran wird Lisz Hirns Buch auch nicht drastisch etwas ändern. Es zu lesen, war trotzdem bereichernd.

Es lebt von kurzen informativen Sätzen, ohne dadurch langweilig zu wirken. Schön ist auch, dass viele Metaphern oder Beispiele nicht nur neu oder außergewöhnlich sind, sondern kontinuierlich durch das Buch gezogen werden. Zudem sind die Kapitel gut unterteilt und betitelt; Bei den Titeln handelt es sich häufig um Aussagen, bei denen man sich selbst schon mindestens einmal ertappt hat.

Bereits am Anfang kann man sich die Pointe bzw. die Moral des Buches erdenken, da sie sich ebenfalls angenehm und nicht zu aufdringlich durch alle Kapitel zieht.

Allerdings ist auch anzumerken, dass Hirn Themen behandelt, die nicht erst seit gestern in der Welt sind und schon von sämtlichen Medien und Personen durchgekaut wurden, was auch der Grund dafür ist, dass Hirn uns mit keiner bahnbrechenden Moral überrumpelt.

Am Ende von jedem Kapitel kann man sich schon einmal ein bisschen verloren fühlen und fragen, an welcher Stelle die Lösung für den Trugschluss überlesen wurde. Ich bin mir unsicher, ob ich die falschen Ansprüche an dieses Buch stelle oder etwas Wichtiges übersehe.

Im Endeffekt ist der Versuch, die Trugschlüsse zu beseitigen, ja auch nur Hirns subjektive Ansicht und niemand ist gezwungen, diese Meinung zu übernehmen.

Trotz der Kritik ist das Buch aber vor allem durch seine Kompaktheit lesenswert und regt sicherlich mit seinen interessanten Ansätzen und Beispielen zu attraktiven Gesprächen an.

Als letztes möchte ich noch eine Botschaft der Autorin loswerden, damit wir uns ins Gedächtnis rufen, dass wir doch vielleicht nicht ganz so irrelevante Statisten auf der politischen Leinwand sind:

Politik ist nur so böse, wie wir Bürger sie sein lassen.

 

 

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