Menschen, die vorübergehen
von Jana Berwig
„Ich gebe dir, was du brauchst“, schrieb er. Hatte sie zu viel verraten? Warum hatte er ihr keine andere Nummer gegeben, oder hatte er sich gar selbst als weiterführende Hilfe angeboten?
Sex als weiterführende Hilfe … Sie kicherte in sich hinein, als die Tür hinter ihr ins Schloss fiel. Obwohl ihr etwas flau im Magen war, verspürte sie eine übermütige Vorfreude in sich aufsteigen. Nicht nachfragen, bloß zuhören. Das hatte sie gelernt, als sie vor Jahren bei der Telefonseelsorge gearbeitet hatte.
Schließlich bestand bei jeder Nachfrage die Gefahr, die Probleme des Gegenübers zu sehr in sich aufzunehmen, sie zu eigenen werden zu lassen. Die meisten der Anrufenden wussten ohnehin, was zu tun, zu lassen und zu entscheiden wäre. Sie schoben den Moment nur immer weiter hinaus. Sie wollten einfach davon erzählen. Jemandem. Sie wussten, dass irgendein Problem zu ihrem Leben gehörte, ein Herausarbeiten jedoch äußerst mühsam und kleinteilig wäre. Wie hätte sie das als Seelsorgerin am Telefon bewerkstelligen sollen? Eben. Also verwies sie die Bereitwilligen dorthin, wo sie jene Hilfe fanden, die sie wirklich benötigten.
Es war schon dunkel, als sie am Treffpunkt ankam, doch das urbane Weißlicht hellte alles halb auf. Allein war sie. Fast allein. Verabredet waren sie an einer Straßenecke mitten in der Stadt. Um diese Zeit waren hier weniger Menschen unterwegs als im geschäftigen Tageslicht. Trotzdem gab es sie. Schattenartige Gestalten, flüchtig Vorbeilaufende, mit hochgeschlagenem Kragen und niedergeschlagenen Gesichtern. Passend zur Jahreszeit.
Die Luft war kühl, erfüllt von Nebel. Im Gegensatz zu ihrem Verstand. Der war erhitzt und gärte. Aber auch etwas kalt war ihr. Sie zog an ihrem Schal und wippte leicht von einem Fuß auf den anderen. Extra zwei oder drei Minuten zu spät war sie gekommen, in der Hoffnung, schon in einer gewissen Entfernung erahnen zu können, auf wen sie da treffen würde. Sie wollte Umrisse deuten, Merkmale eines auf sie wartenden Mannes erkennen, der ungeduldig auf sein Handy schaute. Sie hatte lediglich ein unscharfes Foto und einen endlosen Chatverlauf, der detailliert beschrieb, was sie brauchte.
Nun war sie es, die ihr Handy aus der Tasche zog und prüfte, ob sie nichts falsch verstanden oder den Treffpunkt verfehlt hätte. Natürlich um geschäftig zu wirken, auf jeden Fall nicht wartend.
„Bin etwas spät dran“, las sie.
„Was heißt das“, tippte sie.
Ihre Unruhe brachte sie dazu, eine Zigarette zu schnorren. Von einem zum Stehen gekommenen Vorbeilaufenden. Obwohl sie einige Tage zuvor mit dem Rauchen aufgehört hatte. Das Feuerzeug trug sie noch in ihrer Manteltasche. Es fühlte sich gut an.
Als sie die Zigarette anzünden wollte, erkannte sie ihn. Ein angedeutetes Winken, schneller werdende Schritte in ihre Richtung. Verstohlenes Lächeln auf beiden Seiten.
„Hallo! Na du?!“
Schnell steckte sie die Zigarette in die Tasche, fragte aber zugleich: „Ist es okay, wenn ich rauche?“
„Ja, klar. Habe auch erst gerade wieder damit angefangen.“
Sie sahen sich kurz in die Augen und verschluckten ein Lachen, das sich zwischen ihnen auszubreiten drohte. Nein, das war nicht vorgesehen. Schließlich hatten sie eine Mission zu erfüllen. Ohne weiteren Blickkontakt liefen sie los.
„Siehst du den Park dort drüben?“, fragte er.
„Ja“, antwortete sie.
Beide drückten sich an parkenden Autos vorbei, über die Straße hinweg, dem Dunkel entgegen, das er zu kennen schien.
„Deine Gegend?“
„Ja“, raunte er, sonderbar unbeschienen von den Nachtlaternen. „Mach dir keine Sorgen wegen der Passanten, wir warten einfach, bis die fort sind.“ Nach kurzer Pause fügte er hinzu: „Passanten! Habe mich letztens gefragt, warum die eigentlich so heißen. Kommt aus dem Französischen“, referierte er weiter, „Menschen, die vorübergehen.“
„Aha.“ Mehr brachte sie nicht heraus und dachte, dieses Wort noch nie bewusst benutzt zu haben. En passant. Ihr fiel eine Kneipe mit diesem Namen ein, die auf einem ihrer früheren Wege lag. Nie war sie dort hineingegangen, hatte sich stattdessen gefragt, warum eine Kneipe an einer Straßenecke auf nichts Verweilendes verwies.
Unvermittelt zog er die Nachdenkende an sich. Einen Seufzer stieß sie aus, als er ihr in den Schritt griff.
„Ich will es dir besorgen“, flüsterte er in ihr Ohr.
Sie griff an seine Hose, und ihr entfuhr in ihrer Erregung ein weiteres Geräusch. „Ja, besorg es mir“, ließ sie raunend hören.
Auf einmal waren beide keine Passanten mehr. Dicht beieinander standen sie. Kopf an Kopf. Körper an Körper. Bereit. Er wollte ihre Lust entdecken und sie die seine. Zwei Menschen, eine Mission.
Da war eine Bank. Er ließ sich nieder, sie setzte sich auf ihn. Breitbeinig, grätschend. Wie eine Spinne.
„Kondome?“
„Ja!“
Sie hatte geschrieben, bring Kondome mit, ohne ginge es nicht.
„Hier“, stöhnte er, während sie sein Glied zwischen ihren Handtellern rieb, bis sie meinte, dass gleich Funken zum Vorschein kommen müssten, um in ihr das Feuer zu entzünden. Sie ließ los, damit er sich das Kondom überstreifen konnte.
„Sei vorsichtig“, flüsterte sie, erhob sich über ihm, zwang den Slip mit der Strumpfhose in die Knie und ließ ihn in sich gleiten. Sofort wurde sie von seiner Hitze eingenommen.
„Das ist gut“, flüsterte sie wieder, „sehr gut“ und führte seine Hände zu ihren Brüsten über dem Shirt, nachdem sie sich hastig den Mantel aufgeknöpft hatte, um die fremden Hände nun von unten durch ihr Shirt direkt zu ihren Brüsten zu befördern. „Gut, gut, erzähl mir mehr davon, was wir gerade tun!“
Sie bewegte sich auf und ab und dachte daran, wie sie es versprochen hatte. Nein, nicht versprochen, wie sie sagte: „Ich muss mal raus, nur ein paar Schritte und etwas frische Luft. Bin gleich zurück.“
„Pass auf dich auf“, klang deraAndere fast besorgt, als ob er ahnte, was sie vorhatte.
Endlich hatte sie es gesagt: „Ich muss mal raus, ich muss einfach raus. Ich muss raus, ich muss raus!“ In einer rhythmischen Schleife zuckte sie schließlich zusammen. Hatte sie das laut gesagt? Sie hielt sich überrascht den Mund zu.
„Bist du gekommen? Alles in Ordnung?“ Er fragte und hielt inne.
Nein, nichts ist in Ordnung, dachte sie. Tränen drückten sich nach außen, nur mit Mühe trieb sie sie ins Innere zurück. Er klang fast so besorgt wie der andere.
„Alles gut, ich will dich“, hauchte sie wieder, „ich will dich so sehr!“ Und sie bewegte sich erneut, schluckte die Tränen herunter, während sie seinen Hals umklammerte und seine Haare durchfuhr.
Er ließ sie gewähren. Sie machten weiter, immer weiter. Zur stumm verschlungenen Skulptur wurden beide, wenn sie einen Passanten vermuteten. Dann waren sie wieder die Zwei mit einem gemeinsamen Ziel. Auf einer Bank. Im Dunkel der Herbstnacht. Inmitten der Stadt.
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