Freitag, 06.11. – 20.00 Uhr
„LYBIEN IST DIE HÖLLE“ Vortrag von Klaus Stamm,.
Tübinger Segler half Flüchtlingen auf der „MS Sea-Watch“
„Es muss keiner ertrinken“, sagt Klaus Stramm. Deshalb hatte sich der Tübinger Segler entschieden, auf der „MS Sea-Watch“ anzuheuern. Der Kutter ist auf dem Mittelmeer unterwegs, um Flüchtlingen in nicht seetüchtigen Booten zu helfen.
Klaus Stramm, Vorstandsmitglied der Studentischen Seglergemeinschaft Tübingen, hat viel Erfahrung mit der Schifffahrt: „Ich fahre ja schon lange zur See“, sagt er. Der 63-Jährige ist Informatiker im Ruhestand und hat „viel freie Zeit“. Die möchte er nutzen, um zu helfen, denn: „Irgendeiner muss es ja tun.“ Im August war er vier Wochen als Erster Offizier im Einsatz – zehn Tage davon im Boot auf dem Meer.
Die Besatzung leistet Erste Hilfe
Die „MS Sea-Watch“ ist nicht dafür ausgelegt, Flüchtlinge an Bord zu nehmen und zum Festland zu bringen. Wenn die italienische Küstenwache einen Notruf erhält – an Bord mancher Flüchtlingsboote ist ein Satellitentelefon – wird das private Rettungsschiff informiert. Dann macht sich die Besatzung der „MS Sea-Watch“ auf die Suche. „Manchmal mit mehr und manchmal mit weniger Erfolg“, sagt Stramm. Einige Boote werden nicht gefunden. Oder die Helfer begegnen anderen, die keinen Notruf aussenden konnten.
Nach mehr als 10 Stunden kam die italienische Küstenwache diesen Flüchtlingen zu Hilfe.
Wenn ein Flüchtlingsboot gefunden wird, leistet die Besatzung erste Hilfe: Es werden Rettungswesten verteilt und die Schlauchboote entlastet. Die Crew des Kutters beruhigt die Menschen, die in den vollgestopften Booten stehen. „Sie sind zum Teil in einem sehr bedenklichen Zustand“, sagt der 63-Jährige.
Oft sind 150 Menschen in Booten, die nur für 60 bis 80 ausgelegt sind. Dort stehen sie stundenlang – zum Sitzen ist kein Platz – ohne Trinkwasser, einige sind verletzt: „Da war ein Mann mit zwei gebrochenen Beinen, ohne Behandlung.“ Die Helfer verteilen Trinkwasser, ein Arzt kümmert sich um die Verletzten. Die „MS Sea-Watch“ bleibt so lange bei den Booten, bis andere Schiffe eintreffen, die Flüchtlinge aufnehmen können.
Vor Klaus Stramms Einsatz mussten einige Dinge am Schiff repariert werden. „Wir haben erstmal überlegt, wo wir am besten hinfahren“, so der Rentner, der in Metzingen wohnt. Es gibt einige Hauptrouten für die Überfahrt von Afrika nach Europa. Die Boote starten westlich von Tripolis. Allerdings gibt es auch eine Schlauchbootroute von Misrata aus. Die Stadt befindet sich östlich von Tripolis. Nach Absprache mit anderen Hilfsorganisationen entschied sich die Crew der „MS Sea-Watch“, sich an der Schlauchbootroute zu orientieren.
Stramm hatte in den zehn Tagen auf dem Meer acht oder neun Einsätze. Rund 1000 Menschen konnte die Crew in der Zeit vor dem Ertrinken bewahren. Am Morgen des letzten Einsatztages, dem 27. August, stießen Stramm und seine Kollegen innerhalb kurzer Zeit auf fünf Schlauchboote mit etwa 500 Flüchtlingen. „Dafür gab es keine Einsatzplanung“, sagt der Metzinger. Die Crew musste sich beraten. Sie kam zu dem einstimmigen Entschluss: „Wir dürfen kein Boot verlieren.“
Die Schlauchboote wurden entlastet. Die Helfer bauten die letzten fünf Rettungsinseln, die noch an Bord der „Sea-Watch“ waren, auf und sicherten zunächst Frauen und Kinder. Die Crew versorgte Verletzte und verteilte die letzten Trinkwasservorräte. Die „MS Sea-Watch“ sendete einen Notruf an die italienische Küstenwache. Doch westlich von Tripolis hatte sich zur gleichen Zeit ein weiteres Unglück mit Flüchtlingsbooten ereignet – dort war die Situation noch brenzliger. Erst über zehn Stunden später traf Hilfe bei den fünf Booten um den Krabbenkutter ein. In der Zwischenzeit nahm ein vorbeifahrender Frachter 120 Menschen auf.
Klaus Stramm hat einige der Flüchtlinge gefragt hat, warum sie solche Gefahren auf sich nehmen. Oft bekam er „Boko Haram“ oder „al-Qaida“ als Antwort. „Die meisten hatten nie vor zu fliehen“, so der Segler. Oft sah er an den Körpern der Menschen Spuren von Folter. „Libyen ist die Hölle“, sagt er. Und dieser Hölle wollten die Menschen entkommen, auch wenn das mit einem sehr großen Risiko verbunden sei.
Trotz des vielen Leids, das Stramm während seines Einsatzes gesehen hat, überwiegt für ihn das Gefühl der Zufriedenheit: „Man konnte die Dankbarkeit aus den Augen herauslesen.“ Den „allerletzten Augenblick“ vor dem sich der Helfer am meisten fürchtete, „gab es zum Glück nicht“: Tote.
Seelsorger betreuen die freiwilligen Helfer
Die Freiwilligen auf der „MS Sea-Watch“ werden von der Notfallseelsorge Bayern betreut. Bevor sie mit dem Schiff auslaufen, gibt es ein Briefing mit einem Seelsorger. „Das bereitet einen schon darauf vor, dass man Sachen erlebt, die man sich nicht gewünscht hat“, sagt Stramm. Nach dem Einsatz gibt es ein sogenanntes Debriefing: In der Gruppe und einzeln sprechen die Helfer über die Erlebnisse und den Umgang damit. Nach der Rückkehr an ihre Wohnorte steht ihnen eine telefonische Seelsorge zur Verfügung. „Ich muss sagen, das war eine sehr gute Sache“, so Stramm.
Für den Metzinger ist die einzige Lösung für die Probleme im Mittelmeer offensichtlich: legale Wege für Menschen schaffen, die in ihrer Heimat nicht mehr leben können. Dann gäbe es keine Schlepper mehr und die Seenothilfe wäre nicht mehr nötig. „Das ganze Thema hätte sich dann erledigt.“
Privatinitiative finanziert die Einsätze auf dem Mittelmeer
Die „MS Sea-Watch“ ist ein fast 100 Jahre alter Fischkutter aus Holland. Familien aus Brandenburg haben ihn gekauft und so umgebaut, dass eine Besatzung von acht Mann darauf Platz hat. Seit dem 20. Juni dieses Jahres ist das Schiff vor der libyschen Küste unterwegs und hilft Flüchtlingen in überfüllten Booten. Alle zwei Wochen wechselt die Crew. Die Helfer haben verschiedene Professionen. Unter ihnen sind Ärzte, Rettungsassistenten, Journalisten, Mechaniker und Kapitäne. Im Herbst und Winter stellt die „MS Sea-Watch“ ihre Aktivitäten ein. Seit Juni konnten mit ihrer Hilfe über 3000 Menschen gerettet werden. Finanziert werden die Einsätze ausschließlich mit privaten Mitteln. Um auch im nächsten Jahr wieder helfen zu können, ist die „MS Sea-Watch“ auf Spenden angewiesen.
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