Mit 57 noch 17 sein
Essay von Maja Seiffermann
Tipp tapp. Tipp tapp, das Ich tappt im Dunkeln herum. Es dreht sich um die eigene Achse, drückt sachte gegen die Wände und geht einen weiteren Schritt. Es ist bis auf eine leise Stimme und ein entferntes Rauschen still.
„Bist du jetzt beleidigt?“ fragt diese leise tiefe Stimme.
Beleidigt? Denkt das Ich. Er hatte sich über die Reaktion des Ichs lustig gemacht. Er hatte sich über die Aussage, die Meinung, ja die Wertvorstellung, des Ichs lustig gemacht. Und als er einsah, dass er das Ich verletzt hatte, versicherte er, dass er die Meinung des Ichs gut finde. Daraufhin freute sich das Ich, fügte aber stolz hinzu, dass es die Meinung unabhängig seiner Resonanz nicht ändern würde.
Da brach er in lautes Gelächter aus, wirre Worte sprudelten aus seinem Mund, eine Fontäne an eingebildeten, egoistischen, erniedrigenden, einfallslosen, unreflektierten Worten; die Hauptaussage war jedoch nicht zu überhören: „Das ist ein typischer Satz, den eine Siebzehnjährige sagen würde“.
Tipp tapp. Das Ich geht noch einen Schritt. Es findet einen Lichtschalter. Knips, es wird hell. Das Ich hat nichts Falsches gesagt, glaubt es. Es ist stolz, einen Satz gesagt zu haben, den eine Siebzehnjährige sagen würde. Schließlich ist das Ich auch siebzehn. Es wäre aber auch stolz in fünf, ja sogar in zehn Jahren. Das Ich möchte sich nicht verbieten lassen, das zu sein, was es gerne ist. Das Ich möchte auch mit 57 noch 17 sein.
Das Ich legt auf und hat das Gefühl, nicht nur den Hörer wegzulegen, sondern eine ganze Welle, einen Tsunami, an Einflüssen, die es nicht haben wollte. Zwar wurde dem Ich bereits in seiner frühen Kindheit beigebracht, einen Filter aufzubauen, autonom zu leben und die Heteronomie hinter ich zu lassen; ob das Ich frei ist, ist dennoch eine gänzlich andere Fragestellung. Ob es nach den Prinzipien des Determinismus oder nach kantischen Maßstäben frei ist, steht sicherlich zur Debatte, doch nach den eigenen Prinzipien, allein dem vermittelten Gefühl nach, ist das Ich frei. Denn es hat das Gefühl frei handeln und entscheiden zu können. Denn hat das Ich einmal recherchiert, ob die Welt geprägt ist von Determinismus, ist es zu keinem Schluss gekommen. So viele Unterkategorien, so viele Vertreter, so viele Begründungen, so viele Fragen und so wenige Antworten.
Das Ich hat so gewaltig viele Fragen und so wenige Antworten. Oder, um genauer zu sein, eher zu viele Antworten, die alle nur halbe Antworten sind, weil sie wiederum zu Fragen führen. Ohne natürlich den Wert der Fragen degradieren zu wollen.
Das Ich wurde mit einem natürlichen Bedürfnis geboren, Tatsachen und Sachverhalte zu hinterfragen. Bei anderen Ichs beobachtet das Ich dieses Bedürfnis in einem weniger ausgeprägten Maße und manchmal führt diese Beobachtung dazu, dass das Ich sauer wird. Es ärgert sich darüber, dass das Ich von Marco an etwas glaubt, das Ich gar nicht begreifen kann. Es ärgert das Ich, dass dieser Glauben das Ich und die Ichs seiner Familie diskriminiert.
Das Ich fühlt Ungerechtigkeit mehr als Gerechtigkeit und verneint so gerne Sätze, nur um sich zu vergewissern, dass es nicht zum bejahten Gegenteil wird. Das Ich möchte kommunizieren, dass es etwas Bestimmtes fühlt und verwendet Laute, von denen es einst gelernt hat, dass sie etwas Bestimmtes bedeuten.
Das Ich liegt nun wach und dreht sich zur Seite, hin zum Licht, weg vom Telefon. Es fragt sich das, was es sich ständig fragt: Was ist das Ich? Wer ist Ich? Ich ist eine dritte Person, wie etwas Fremdes, Fremdartiges, nicht Zugehöriges. Etwas Selbstständiges, eine höhere Instanz. Allein der Begriff verlangt nach etwas wie einem meta Metaphysischen Ich, zu dem das Ich gehört.
Das Ich kann sehr viel. Im Laufe der Zeit hat es sich Dinge antrainiert, bei anderen Ichs abgeschaut und schlechthin der Raue des Lebens getrotzt. Es kann erkennen, lernen und weitergeben.
Es kann anderen Ichs hilfreich sein und sich selbst helfen, indem es erkennt, welche Wunde welches Pflaster braucht. Doch all das erfordert so viel Wille, von dem sich das Ich immer fragt, woher er kommt. Was in der Welt gibt dem Ich die Kraft, überleben zu wollen? Nicht, dass alle Ichs ungerne leben, aber es ist schon eine seltsame Vorstellung, dass Ichs ihre Willensstärke für so viel anderes nutzen, aber einfach hinnehmen, dass sie existieren. Statt die Existenz zu beenden, fangen sie an, zu hinterfragen, warum sie es tun. Womöglich war genau das der Plan. Aber das werden alle Ichs dieser Welt niemals erfahren. Es geht nur um Glauben und Mitmachen oder es zu lassen.
Das Ich weiß, dass es manche Dinge gerne und andere weniger gerne macht. Wenn es schreibt beispielsweise, dann fühlt es sich, als wäre es am richtigen Ort, es schwimmt auf den Punkten des „i“ und springt von Komma zu Komma und es fällt ihm so leicht, dass sich eine wohlige Wärme in ihm ausbreitet. Wenn es hingegen umgeben ist von Zahlen und Graphen, die es für ein bloßes Konstrukt hält, bei dem es einzig richtig und falsch gibt und so wenig Interpretationsfreiraum, dann fühlt es sich eingeengt und unsicher.
Das Ich möchte also wissen, wo es hingehört. Es kann sich einem Land, einer Gesellschaft, einem Bereich zuordnen, doch das kann nicht alles sein. Denn mit einer solchen Zuordnung würde es allein eine Zuordnung zur Gesellschaft, zur Menschheit ausdrücken, denn all diese Dinge ergeben sich aus der Gesellschaft. Und ja, das Ich braucht eine Gemeinschaft, denn es ist ein soziales, ein politisches Wesen, allein durch diese Ungerechtigkeit, die das Ich verspüren kann. Doch diese Zuordnung ist nicht genug; das Ich muss sich zuerst verlieren, um sich und den Ort, an den es gehört, zu finden. Das Ich existiert nämlich nur um das Existieren willen und wird aus eben diesem Grund weiter existieren. Die Konsequenz seines Existierens ist Ursprung und Zweck zugleich.
Doch all diese Eigenschaften des Ichs sind nur umsetzbar, wenn das Ich gesund ist. Sind Teile des Ichs defekt, fehlplatziert oder verrückt, entwickelt das Ich Ängste, also Gefühle, die es an der Umsetzung bestimmter Taten hindert: Mit siebzehn hat das Ich Ängste vor der Zukunft, Ängste richtig von falsch nicht unterscheiden zu können oder Fehlentscheidungen zu treffen. Es hat Angst vor den anderen Ichs, obwohl diese genauso fühlen. Doch auch diese Ängste verbinden die Ichs miteinander und führen dazu, dass das Ich auch mit 57 noch 17 sein möchte.
Das Ich hat so viel Frust und so viel Leid, so viel Angst und so viel Mut, so viel Liebe und so viel Hass und so viel Freude und so viel Trauer. Manchmal fragt das Ich sich, ob es eine erschöpfbare Menge an jedem Gefühl hat und ob manche Gefühle schließlich vergehen werden. Über manches wäre das Ich nämlich sehr froh. Es würde zu gerne so manche Erinnerungen und Gefühle wie einen vor Staub schweren alten Mantel ablegen und neu anfangen. Das führt aber dazu, dass das Ich ein zu einem wahnsinnig ambivalenten Konstrukt wird und sich selbst manchmal nicht verstehen kann. Mit siebzehn ist man eben erst siebzehn und doch möchte das Ich schon jetzt zum Ursprung aller Dinge.
Das Ich möchte wissen, was es ist, es kann nicht bloß eine Theorie sein, in der es zwischen Umwelt, Individuum, Über-Ich und Es gefangen ist und die Einflüsse dieser Instanzen wehrlos hinnehmen muss. Das Ich will so viel und kann nur manches. In all dieser Unruhe kann es schließlich jedoch nicht anders, als zu hinterfragen, unabhängig der Menge der Antworten, die es erhält und unabhängig davon, wie zufriedenstellend diese Antworten sein werden. Und wenn nichts mehr hilft und beim Ich alle Stricke reißen, dann hat es im besten Falle noch die anderen Ichs, mit denen es dieses Schicksal in einem bestimmten Maße teilt.
Eins haben diese Ichs nämlich definitiv gemeinsam: Das Ich möchte glücklich sein. Und sicherlich werden sich noch andere finden, die mit 57 noch 17 sein möchten.
Das ich dreht sich nun wieder auf die andere Seite. Es tappt nun nicht mehr im Dunkeln. Das Licht erfüllt den ganzen Raum und gibt den Blick frei auf eine Wand mit vielen Gesichtern. Das Ich erkennt eigene Gesichter, die es gerne aufsetzt. Daneben, darüber, darunter und dahinter sind all die anderen Ichs, die sich das Ich merken konnte. Es denkt an sie und vermisst einige von ihnen. Es ist fähig dazu, an andere zu denken, mit ihnen zu fühlen, andere zu verstehen. Es sieht Mina an und empfindet Schmerz über ihre tote Großmutter und blickt auf Felix, der vor lauter Liebe irgendwann nicht mehr lieben konnte. Es sieht zudem Arne, der der Sucht verfiel und das Ich fühlt sich schlecht.
Ein Schatten lässt den hellen Raum wieder dunkler erscheinen. Das Ich rennt schnell zum Telefon und wählt eine Nummer. Glaubt man der Mathematik, ist das Ich mit siebzehn in der Quersumme 8.
Acht ist die Zahl der Unendlichkeit. Streng genommen, ist das Ich also in einer Unendlichkeitsschleife gefangen. Das ich wird sich für immer mit den Gedanken des siebzehnjährigen Ichs herumplagen. Einzig und allein wird sich der Einfluss der anderen Ichs ändern, das Licht wird mal heller, mal dunkler leuchten und die Antworten sowie ihre Quellen werden variieren. Eins weiß das Ich aber gewiss: Das Ich bleibt gerne mit 57 noch 17.