Morgentanz

Morgentanz

von Sven Haupt

Der Tag begann mit der prophetischen Verkündigung einer sphärischen weibliche Stimme inmitten einer Tiefschlafphase  – und sie galt einem Vater. Die Stimme kam von seiner dreijährigen Tochter Dorothea-Maria, kurz Dodo genannt, die mit ernster Miene neben seinem Bett stand.

„Meine Stoffkatze hat jetzt einen neuen Namen, Papa. Ich nenne sie ‘Morgentanz’.“

„Das ist wundervoll, mein Schatz“, sagte Thorsten, ein IT-Experte Mitte Dreißig, automatisch und ohne Beteiligung seines Großhirns. Er hatte gefühlte zwanzig Minuten geschlafen, und er war noch nicht bereit seine Niederlage einzugestehen. Kurz darauf ging sein Verstand dennoch online und verarbeitete das erste Wort des Tages. Morgen.

Eine Sekunde später saß er senkrecht im Bett, starrte erst fassungslos auf den Radiowecker, der offensichtlich nicht geweckt hatte, dann auf die leere Betthälfte wo eigentlich seine Frau liegen sollte und schließlich in die Augen einer Stoffkatze, die seine Tochter ihm entgegen hielt.

„Außerdem hat Morgentanz ein bisschen Pipi gemacht“, sagte Dodo vorwurfsvoll und setzte ihm die Schuldige auf den Schoß.

„Sie ist Joggen gegangen, und wir haben verschlafen“, sagte Thorsten fassungslos zu seiner Tochter.

„Nein, sie hat Pipi gemacht, Papa“, sagte Dodo.

„Nein, Deine Mutter“, sagte Thorsten und starrte wieder auf den Wecker.

„Mama hat auch Pipi gemacht?“ fragte Dodo verwirrt.

„Und ich muss in zwanzig Minuten im Büro sein“, sagte Thorsten entsetzt.

„Was?“ fragte seine Tochter.

„Was?“ fragte Thorsten.

Seine Tochter starrte ihn einen Moment lang an und gab dann auf.

„Morgentanz will Spiegelei“, sagte sie und rannte aus dem Zimmer.

 

Thorsten atmete tief ein und ermahnte sich zur Ruhe.

Jede Familie hatte eine Reihe wohl erprobter und sorgsam gepflegter Mechanismen und Strategien, die dafür sorgen, dass alle Mitglieder den frühen Morgen überlebten und am Ende unverletzt an ihren Bestimmungsort ankamen. Thorsten, der Physik studiert hatte, wusste genau, was passierte, wenn ein fein ausbalanciertes System aus dem Gleichgewicht gebracht wurde. Es pendelte zwischen immer stärker werdenden Extremen, bis das Ganze zu einem unkontrollierbaren Chaos kollabierte. Das würde er nicht zulassen. Alles, was er brauchte, war Ordnung, Struktur und Ruhe.

 

Er benötigte zweieinhalb Minuten für seine Morgen-Toilette und seine Kleidung, dann weitere fünfzehn, um seine strampelnde Tochter in trockene Kleidung zu stecken. Als diese quietschend in Richtung Küche verschwand, ging er einen Raum weiter, um Dodos großen Bruder zu wecken. Johann-Wolfgang, der von allen nur ‘Goethe’ gerufen wurde, war nicht in seinem Bett.

„Joggen?“ fragte Thorsten leise. „Würde mich nicht im Geringsten überraschen.“

Er fand den Sechsjährigen schließlich auf der Toilette, wo er entspannt in einem Comic las.

„Papa, wenn ich groß bin und Du lebst noch, dann kannst Du sehen, wie ich mir einen BMW kaufe und eine echte Katze“, sagte Goethe hinter seinem Comic.

„Das ist wundervoll, mein Schatz. Auch Dir einen guten Morgen“, sagte Thorsten und schmiss einen Stapel Pipi-Sachen in die Waschmaschine.

Es dauerte weitere zehn Minuten seine Tochter wieder aus dem frisch gemachten Bett zu holen und sie davon zu überzeugen, dass die Katze nicht krank war und man mit einem Mangel an Tanzen sehr wohl in den Kindergarten musste.

 

Als er in die Küche kam, saß sein Sohn fertig angezogen am Küchentisch und war wieder hinter einem großen Comic-Heft verborgen.

„Wie hast Du das jetzt gemacht, Goethe?“, fragte Thorsten.

„Papa, ich habe beschlossen in die Schweiz zu ziehen, es ist besser da. Aber mach Dir keine Sorgen, ich nehme Mami mit.“

Thorsten zögerte einen Moment, dann erinnerte er sich an das Frühstück. Er stellte die kleine Pfanne auf den Herd und brachte zwei Spiegeleier auf den Weg.

Dodo kam in die Küche geschlendert und zog die Katze am Schwanz hinter sich her.

„Ich und Morgentanz lieben Wolken, Papa. Weißt Du wie Wolken schmecken, Papa? Wolken schmecken wie Zucker, Papa!“

Dodo strahlte.

„Das ist wundervoll, mein Schatz“, sagte Thorsten automatisch.

„Geh bitte und hol Deinen Rucksack für den Kindergarten.“

„Alles nass“, sagte Dodo knapp und lief wieder aus der Küche.

„Was soll das heißen, alles nass?“ fragte Thorsten und ging in die Diele, wo Rucksack, Ranzen, Schuhe und Jacken der Kinder auf dem Boden lagen. Thorsten stöhnte und begann das Chaos zu sortieren.

„Das ist keine Garderobe, sondern ein Praxistest für Entropie! Dodo, warum sind Deine Schuhe vollkommen durchnässt?“ rief er in Richtung Küche.

„Das ist nicht meine Schuld, die Pfützen reden immer mit mir, Papa. Sie sagen, ich soll rein springen“, rief seine Tochter zurück.

Thorsten schüttelte den Kopf, wühlte durch den Rucksack und fluchte vor sich hin.

„Dodo, ich finde Deine Mütze nicht!“ rief er erneut.

„Die hat der Wind sich geliehen!“

„Der… was!?“ rief Thorsten.

„Wenn ich mit Mama Fahrrad fahre, dann zerrt der Wind immer an meiner Mütze, also hab ich sie ihm geliehen.“

„Wie hast Du…?“ begann Thorsten.

„Sind die Spiegeleier schon fertig?“ rief sein Sohn aus der Küche.

Er erstarrte.

„Pfanne!“, rief Thorsten und stürmte aus der Diele.

 

Er kam in die Küche, die nassen Schuhe in der einen und die Ersatz-Mütze in der anderen Hand.

Dodos Stuhl am Küchentisch war leer.

„Wo ist Deine Schwester, Goethe?“

Goethe sah nicht einmal von seinem Comic hoch.

„Papa, am frühen Morgen bin ich ein sehr müder Wasserdrache, aber ich bin nicht gefährlich, es sei denn Du bist eine Schlange. Aber leg Dich nicht mir an, denn ich bin zu 32% giftig.“

Thorsten starrte, dann drängte Dodo neben ihm vorbei. Sie hatte die Katze auf dem Arm und sah sich in der Küche um, als würde sie den Raum zum ersten Mal sehen.

„Wo ist Mami?“ fragte sie erstaunt.

„Joggen“, sagte Thorsten knapp. Er fischte das Handy aus der Tasche und rief im Büro an.

Goethe tauchte hinter seinem Comic auf.

„Wir müssen die schöne Prinzessin Mami aus dem Büro befreien, wo sie von einem bösen Zauberer gefangen gehalten wird!“

Er wandte sich an seine Schwester.

„Aber keine Sorge, sie hat ihren Laptop dabei.“

Dodo sah ihren Vater mit aufgerissenen Augen an. „Mama ist gefangen?“

„Nein“, sagte Thorsten abwesend und wählte die nächste Nummer.

„Sie ist wieder mal joggen.“

„Du lügst!“, schrie Dodo ihren Bruder an.

„Quatsch doch mit der Katze, du Pipi-Hose“, rief Goethe zurück.

„Du bist gemein“, rief Dodo und schlug mit der Katze nach ihrem Bruder.

„Setz Dich bitte zum Frühstück hin, Dodo“, sagte Thorsten und blendete die Geschwister aus, während er weiter versuchte das Büro zu erreichen und die Pfanne hielt. Einmal im Leben kam er zu spät und prompt war niemand da, dem er Bescheid geben konnte.

Es war wie verhext, wozu hatte er all den technischen Scheiß, wenn ihm am Ende sowieso keiner zuhörte? Wenigstens die Eier taten, was sie sollten. Er drehte sich vom Herd um, Handy in der einen und Pfanne in der anderen Hand. Goethe las.

Er schloss die Augen.

 

„Goethe, wo ist Deine Schwester?“ fragte er leise.

„Wohnzimmer“, sagte Goethe hinter dem Comic.

„Sie sagte, die doofe Katze hat sich beim Tanzen verletzt, und nun muss sie den Notarzt rufen.“

Thorsten ließ Telefon und Pfanne auf den Tisch fallen und stürmte ins Wohnzimmer, wo seine Tochter mit ihrer Katze auf der Couch saß und fernsah.

„Mit wem hast Du telefoniert?“ keuchte er.

„Ich habe gar nicht telefoniert“, sagte Dodo, ohne vom Fernseher auf zusehen.

Thorsten atmete langsam aus.

„Da war nur der Anrufbeantworter“, sagte Dodo empört. „Was wenn Morgentanz echt krank ist?“

„Nur der … was?“, fragte Thorsten.

„Die Eier sind lecker, Papa!“, rief Goethe aus der Küche.

„Pfanne!“, rief Thorsten entsetzt und rannte zurück in die Küche.

Goethe kaute zufrieden auf einem Stück Spiegelei und hielt stolz die kleine Pfanne in die Luft, an deren Rückseite halb geschmolzen das Handy klebte.

„Dein Handy ist auch schon gar“, rief er und lachte so sehr, dass ihm Spiegelei aus dem Mund fiel.

 

In diesem Moment, in dem Thorstens Verstand drohte das Schicksal seines Handys zu teilen, hörte er den Schlüssel in der Haustür.

 

Im Türrahmen stand seine Frau, frisch vom Morgenlauf, strahlend lächelnd, eine Tüte mit Brötchen in der Hand. Sie setzte an etwas zu sagen, doch Thorsten holte nicht einmal Luft.

„Wo, verdammt noch mal, warst Du?“ polterte er.

„Mami!“ riefen beide Kinder synchron und stürmten zu ihrer Mutter.

„Du kannst mich doch nicht einfach mit diesen beiden Irren alleine lassen!“ fuhr er unbeeindruckt fort.

„Wer möchte ein warmes Brötchen?“ fragte seine Frau.

„Ich, ich“, schrien die Kinder.

„Ich, ich bin hier fast wahnsinnig geworden! Ich schwöre, diese Vandalen sprechen sich nachts ab und arbeiten heimlich an einem Masterplan, mich in die Klapsmühle zu bekommen, bevor ich vierzig bin!“ rief er, während er anklagend die Eierpfanne hoch hielt, an der weiter sein halb geschmolzenes Telefon klebte.

„Wenn die App Dir versprochen hat, Dir umgehend eine schlauere Ernährung zu verschaffen, dann hast Du sie möglicherweise falsch verstanden“, entgegnete seine Frau, weiter lächelnd.

Thorsten wurde weiß vor Wut im Gesicht.

„Ich schwöre, gleich packe ich meinen Kram und setze mich einfach ins nächste Café“ sagte er leise. „Ins Büro schaffe ich es sowieso nicht mehr. Dann kannst Du sehen, wie Du die beiden Chaoten zur Schule und in den Kindergarten bekommst.“

„Mach das“, sagte seine Frau fröhlich. „Ich gehe derweil duschen. Das Café öffnet allerdings erst später – Du hast also noch Zeit für ein Brötchen.“

Sie verschwand in Richtung Badezimmer, lehnte sich dann aber noch einmal in den Flur zurück.

„Könntest Du bitte die Zeitung von draußen rein holen? Ich will gleich die Beilage lesen.“

„Welche Beilage?“ fragte Thorsten fassungslos.

„Die Samstags-Beilage“, rief seine Frau in den Gang.

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