Nach dem Opernbesuch
Geschichte von R.E. Brosa
Luise und Thorsten Seisemann kommen glücklich und zufrieden aus der Oper.
„Das war eine gelungene Aufführung!“, schwärmt er und zieht den Kragen seines Mantels hoch, um seinen Hals vor der kühlen Novemberluft zu schützen. Seine Frau pflichtet ihm bei. Langsam beginnt es zu regnen, und Thorsten Seisemann zieht seinen Kragen noch höher und spannt den mitgenommenen Regenschirm auf.
Sie wollen ein Taxi nehmen, das sie in ihre gemütliche Villa am Stadtrand bringen soll, in der die aufgedrehte Heizung bereits sehnsüchtig auf die Ankunft des Ehepaares wartet.
Um den Taxistand zu erreichen, müssen sie allerdings einen nett angelegten, großen Platz mit einigen bepflanzten Blumenkübeln aus Beton vielen Sitzbänken, die von Obdachlosen gerne als Schlafplatz genutzt werden, überqueren. Auch zu dieser ungemütlichen Jahreszeit sind sie stark frequentiert.
Um zu verhindern, dass sich beide Gesellschaftsschichten vermischen, hat die Stadtverwaltung beschlossen, diesen Platz mittels eines großen Zaunes zu halbieren. So sind die Opernbesucher auf ihrem Weg zum Taxistand nicht mehr der Gefahr ausgesetzt, mit diesen Leuten in Kontakt zu kommen. Auch die Problematik der Vielzahl an herumlungernden heimatlosen Menschen wird so halbiert. Da kann man nicht behaupten, die Politik nimmt sich dieses Themas nicht an.
„Dieser arme Mensch“, jammert Frau Seisemann kläglich bei dem Anblick eines Mannes, der auf der Bank schläft und durch den jetzt stärker werdenden Regen zunehmend nasser wird. Sie bleibt stehen, während ihr Mann mit dem Regenschirm weitergeht. Sie wird nass, wühlt aus ihrer Handtasche ein mittlerweile hart gewordenes Stück Brötchen, das sie eigentlich für die Enten im Stadtpark stets mit sich trägt und schmeißt es über den Zaun. Es landet zirka zwei Meter vor dem Mann auf dem Asphalt.
„Für dich“, sagt sie liebevoll, doch der Obdachlose schläft tief und fest. Frau Seisemann rüttelt wie ein Kleinkind im Zoo am Zaun und schreit: „Aufwachen! Gucken Sie mal, da liegt was Feines!“
Ihr Mann tritt auf sie zu, hält mit der einen Hand den Regenschirm über sie und will sie mit der anderen Hand wegzerren.
„Lass ihn, er schläft doch so lieb. Da steht ein Taxi!“ Er macht mit dem Kopf eine Bewegung in Richtung des Fahrzeuges.
„Aber ich habe ihm was Gutes getan“, sagt sie und stampft dabei vor Wut auf den Boden. „Ich will sehen, wie er sich freut!“
Thorsten Seisemann versucht seine Frau, die inzwischen völlig nass ist, weiterzuziehen: „Du weißt nicht, wie diese Kreatur sich verhält, wenn man sie im Schlaf stört? Das könnte gefährlich werden.“
Sie klammert sich verzweifelt am Zaun fest.
„Er kann mir nichts tun, da ist doch ein Zaun zwischen uns!“, schreit sie, fast schon hysterisch. Der Obdachlose dreht sich im Schlaf um. Die Seisemanns halten erschrocken inne. Dann löst sich ihre Schockstarre wieder.
„Da steht ein Taxi!“, flüstert er und versucht sie zur Vernunft zu bringen. „Das hier ist nicht unsere Welt!“
Ein Finger von Luise Seisemann nach dem anderen löst sich vom Zaun. Thorsten Seisemann gewinnt langsam aber sicher und hat seine Frau bald wieder unter Kontrolle.
„Gucken Sie doch mal …!“, schreit sie in heller Verzweiflung und ist scheinbar immun für die gutgemeinten und lebenswichtigen Ratschläge ihres Mannes. Der zieht sie direkt zum Taxi und sieht noch aus dem Augenwinkel, wie der Obdachlose langsam erwacht und sich jetzt von seiner Ruhestätte erhebt.
„Wir können es noch schaffen!“, schreit Thorsten Seisemann. Sie erreichen das Taxi, steigen ein und verschließen die Tür.
Der Obdachlose schlurft schlaftrunken zum Zaun und rüttelt an ihm.
„Keine Angst, der Zaun ist stabil!“, beruhigt der Taxifahrer die Seisemanns und rast, nachdem er das Ziel der Fahrt erfahren hat, los.
Traurig sieht der Obdachlose dem Taxi hinterher, geht etwas zurück, hebt das Brötchen auf, hält es in die Luft und ruft: „Sie haben etwas vergessen!“
Dann geht er wieder zu seinem Unterschlupf, legt sich wieder hin und versucht sich vor dem Regen zu schützen.