Nachricht aus dem Land zwischen Himmel und Meer
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Essay von Catrin George Ponciano
Ein Satz und es war um mich geschehen. Ich hatte mich verliebt. In die portugiesische Dichtkunst. »Wer das Gesicht betrachtet, erkennt das Herz nicht«, lauteten die Worte, die mich hypnotisiert haben. Was sehe ich – und was nicht -, übersetzte ich für mich die kurze Zeile, denn dieser Moment markiert seither mein Verständnis für die Literatur meiner Wahlheimat Portugal.
Es sei das `Land zwischen Himmel und Meer´, heißt es immer wieder. Eine Metapher, die nichts mit Geografie zu tun hat, sondern ein Geheimnis offenbart. Es ist ein Bild für alles, was das portugiesische Herz je geformt hat. Der Begriff Himmel symbolisiert die Geburtsstunde des einstigen Königreiches, als ein Sprössling aus der Burgunderdynastie und selbst inthronisierte erste König namens Afonso-Henriques die Seele seiner künftigen Nation des noch im Werden befindlichen Königreiches, Rom zum Geschenk gemacht hat. Seit diesem Tag passiert nichts mehr in dem Land des Lichts am Rande von Europa, was nicht mit dem Unerklärlich Großen zu tun hat. Sprich, mit Spiritualität.
Der lusitanische Mythos war geboren, der in mittelalterlichen Balladen ein Volk besingt, das sich dem Übersinnlichen beugt. Ganz und gar, mit Haut und Haar und Blut und Leben. Doch, in welche Richtung sollte sich diese im christlichen Glauben zusammengeraufte Nation dem Größeren beugen, wenn nicht Richtung Meer. Das Land drehte Spanien und Europa den Rücken zu. Sein Volk fühlte sich berufen, den Weg über das Meer zu ihrem gen Zukunft zu wählen und nahm Anlauf ins Unbekannte. Den Horizont sprengen wollten die portugiesischen Könige. Sich unvergessen machen. Fremde Kulturen auskundschaften, und deren Völker dem eigenen Königreich untertan machen, erstrebten sie. Die Portugiesische Sprache wollten sie ausstreuen – und den Glauben an die Heilige Dreifaltigkeit. Geschafft hat die kleine Nation all dies – und noch mehr: Das Königreich Portugal hat die Neue Welt nach Europa mit nach Hause gebracht.
So wundert es nicht, dass sich das erste bedeutende literarische Werk mit über 1100 Strophen Hohegesang eben dieser Metapher »Portugal, das Land zwischen Himmel und Meer« widmet. Verfasst von einem Dichter, der von sich sagte, gedichtet habe ich nichts, bloß aufgeschrieben, was ich beobachten konnte. Preziös ist ihm gelungen, Portugals Geburt und Entdeckerepoche episch einzufangen. Mit mythologischen Enigmen durchwebt, besingt er die auserwählte Nation, die als Argonaut in See stach und sich das Universum untertan machte. Luís de Camões[i], der Dichter, der keiner sein wollte, besingt in seinem Lebenswerk die Soldaten, die Matrosen. Alles Ehemänner, Brüder, Cousins, Söhne, und Väter, die dies vollbracht haben. Er erhebt sie alle zu Nationalhelden. Ihm verdankt Portugal sein einzigartiges Nationalepos »Die Lusiaden» – und das Volk sein erstmals international wahrgenommenes Gesicht als Portugiesen.
Als jedoch, oh Schreck, der Ersehnte König Sebastian[ii] sein Leben in einer fatalen Schlacht auf nordafrikanischem Territorium verloren hat, und kurz darauf das Königreich seine Souveränität an die kastilischen Nachbarn, trübt ein Schleier der Scham das lusitanische Antlitz. Die eben noch heldenhafte Erhabenheit des Volkes wich einem kollektiven Gefühl persönlicher Niederlage. „Gestern – gestern war ich glücklich“ beklagt die lusitanische Seele diesen seither andauernden Zustand, der unter dem Oberbegriff aller lusitanischen Sehnsüchte als saudade bekannt ist. Obwohl das Königreich seine Souveränität längst wiedererlangt hat und bis ins 20. Jahrhundert zu den größten Kolonialmächten der Weltgeschichte zählte, eine Reihe berühmte Romanciers und Philosophen hervorgebracht und Napoleon besiegt hat, einen Bruderkrieg niedergeschlagen und sich mit Verfassung neu konstituieren konnte, sind von der glorreichen Argonauten Fahrt der Portugiesen in Camões Epos, lediglich die Erinnerung – und die perfide Lust am Schmerz sich zu erinnern geblieben.
An der Schwelle zum 20. Jahrhundert setzten sich Portugals Dichter und Denker auf der Suche nach der portugiesischen Identität mit der Definition für saudade erneut auseinander, allen voran Teixeira de Pascoaes[iii], Begründer der Renascença Bewegung. Seinem Bestreben folgten etliche Intellektuelle, die den Begriff saudade messianisch mystifizieren und zum Stigma Portugals erheben wollten, um das Vergangene unvergänglich zu machen.
Andere Literaten jener Epoche beschäftigten sich mit Portugals Metapher und Mythos auf abstrakte Weise. Sie ließen Vergangenen gedanklich ruhen und beschäftigten sich mit geistigen Konflikten der Neuzeit, Sie fragten sich, was mag zwischen saudade und Tatsachen noch existieren. Was bewegt uns, und was bewegt das Unsichtbare im 20. Jahrhundert. Intellektuell angestachelt waren all dieses Dichter und Denker von den politischen Umwälzungen in Portugal nach dem Sturz der Monarchie und der anschließenden Ausrufung zur Republik. Am 5. Oktober 1910 zerbarst der bis dato 767 Jahre lang gültige religiös-spirituelle Rahmen, der das Volk, sein Herz und seine Seele zusammengehalten hat. Das Krachen erschütterte die gesamte Nation. An was sollte sie nun glauben – oder besser noch gefragt – wem. Ungebildet, der Schrift und des Lesens nicht mächtig musste sich über die Hälfte der Bevölkerung allein neu orientieren. Ohne Klerus und König. Eine Goliath-Aufgabe für Arbeiter, Bauern, Fischer und Tagelöhner, deren Leben und das ihrer Vorfahren immer zwischen Himmel und Meer stattgefunden hatte.
Die Schriftstellerzunft erkannte die literarische Brisanz der Stunde verursacht durch das sozio-ökonomischen Beben und nährte sich an der Stimme des Volkes und ihrer Gedanken für eine Literatur, die sich mit den sozialen und judikativem Missständen der Gegenwart beschäftigte.
Im Gegensatz zu ihren bereits gerühmten und längst veröffentlichten Kolleginnen, die mit ihrer stigmatisierenden Sicht die portugiesische alma Seele auch weiterhin auf das bisher Bekannte reduzieren wollten, stand eine neue Generation Literaten und Dichterinnen auf und wetzte den Federkiel. Aufgeschreckt von den zeitgeschichtlichen Ereignissen stob die Denkerfront auseinander. Die Urheber der Avantgarde platzierten sich sinnbildlich an den Gestaden Lissabons, zielten wortgewandt spitzfindig in die Wunden, die das neue Zeitalter der Gesellschaft schlug. Aufrüttelnde Jahre folgten, die Portugals Aufbruch in die Literarische Moderne dokumentieren.
Zwei Weltkriege, eine Diktatur, mehrere Kolonialkriege, der Sturz der Diktatur, eine weitere Revolution und eine Revolte später, bereichert die portugiesisch sprachige Literatur uns Lesende nach wie vor mit einem Lektüren-Potpourri aus der Feder von Schriftstellerinnen, die sich in ihrem Schaffenszyklus entweder an dem einen oder an dem anderen geistigen Gestade aufgehoben fühlen. Entweder Saudosismo oder Modernismus als Quell ihrer Schöpfungen.
Was sie eint, ist der unbedingte Wunsch, das Unsichtbare, vielleicht fühlbare, mit grandiosen Geschichten zu befüllen, in denen Figuren wandeln, die aus der glorreichen Geschichte Portugals zu narrativen Wesen auferstehen, während ihre Kollegen bevorzugt deprimierende Dystopien entwickeln. Dazwischen atmet die gesamte Bandbreite literarische Genese aus insgesamt acht Jahrhunderten portugiesischer Literaturgeschichte, zuzüglich vorhandener Chroniken mit Beobachtungen, Fakten und Kontexten aus vier Kontinenten. Ein wahrlich endlos bestückter Fundus als Quell und Quelle für Literatur, die heute stattfindet.
Luís de Camões hat es vor 500 Jahren vorgemacht, und Himmel und Meer mit seinen Beobachtungen der Entdeckerfahrten gefüllt. Der Abenteurer Fernão Mendes Pinto[iv] hat seinerzeit die Methoden der portugiesische Eroberer bereits hinterfragt, und seine Gedanken für die damalige Epoche überraschend modern realistisch notiert. Die literarische Kontroverse in Portugal gebar demnach mitten im sechzehnten Jahrhundert, als Wortwaffe damals gegen die Inquisition und den Absolutismus, und ist seither aus den „Fremden Federn“ Portugals nicht mehr wegzudenken als kritische Wort-Opposition in Stellung zum Tagesgeschehen, sei das Wort politisch, soziologisch, oder gesellschaftlich geprägt, die Literatur Portugals redet mit.
Fernando Pessoa[v] sagte 400 Jahre nach Camões, ich will sehen lernen, und bewegte sich wie einst sein Dichter-Vorfahre als Beobachter durch sein Werk, während seine avantgardistischen Zeitgenossen, wie zum Beispiel Mário de Sá Carneiro[vi] oder die Dichterin Florbela Espanca[vii], die bestehende Wirklichkeit durch sich selbst reflektiert lyrisch festgehalten haben, und damit eine neuartige Kontroversität für die Gegenwart und ihre Missstände begründeten. Aus der Ich-Perspektive. Portugals Literaturnobelpreisträger José Saramago[viii] benutzte sein unnachahmliches Erzähltalent auf wieder andere Weise und sezierte die Soziologie seines Landes in fantastisch anmutenden Geschichten, während sein Dichterkollege Miguel Torga[ix] rigoros nichts anderes aufschrieb als die ungeschminkte Auseinandersetzung mit der herrschenden Armut in Portugal in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts. Die zeitgenössische Schriftstellerin Augustina Bessa-Luis[x] näherte sich den zwischenmenschlichen Innereien Portugals auf psycho-sozialem Weg. Die Gegenwartsliteratin Lídia Jorge[xi] nähert sich Emotionen und zwischenmenschlich Ungesagtem prosaisch einfühlsam detailliert und trägt mit ihrer Literatur zur Erinnerungskultur der jüngsten Zeitgeschichte Portugals unter anderem, in den afrikanischen Kolonien bei.
Fiktion und Fakten bilden in der Lusitanischen Literatur zeit ihres Bestehens eine ureigene Synergie. Die romanische Sprache fußend auf vulgär-Latein, galizisch, iberokeltisch, mit arabischen Einflüssen, lernte im zwölften Jahrhundert sprechen. Portugiesisch als Schriftsprache und als gesprochenes Idiom fand mit portugiesischen Seefahrern seinen kommunikativen Weg nach Afrika, Brasilien, Indien, und Ostasien, und wird aktuell von etwa 270 Millionen Menschen in neun Ländern geschrieben oder/und gesprochen.
In ihrer historisch bedingten kulturell diversen Vielfalt führt uns die portugiesisch-sprachige Literatur somit buchstäblich im Kopf durch die ganze Welt spazieren, lässt uns Lesende in Gesichter und Herzen blicken, und blättert wortgewandt elegant und spritzig bildhaft geschrieben, Erzählebenen auf, von denen wir bisher noch nichts gewusst, gar geahnt haben.
Bem vindo – herzlich willkommen im Land zwischen Himmel und Meer
Herzliche Lesegrüße aus Portugal schickt Catrin George Ponciano
PS: Auf der Buchmesse in Leipzig vom 17. bis 20. März 2022 ist Portugal und die portugiesisch-sprachige Literatur mit Übersetzungen von Klassikern und Gegenwartsliteratur aus neun Ländern das Gastland.
Portugiesische Literaturen findet man vollständig abrufbar bei Frau Noack in der TFM Buchhandlung in Frankfurt: www.tfmonline.de
Fußnoten
[i] Luis de Camões – Nationaldichter – 1524 – 10. Juni 1580 – der 10. Juni ist der Nationalfeiertag des Camões, der Portugal-Tag.
„Die Lusiaden“ – Übersetzung portugiesisch-deutsch als zweisprachige Ausgabe erhältlich im Elfenbein-Verlag Berlin
[ii] König Sebastian von Portugal – D. Sebastião – Beiname: der Ersehnte – 1554 – 1578, gefallen in der Schlacht am 4.8.1578 in Alcácer Quibir, Nordafrika – Sein Tod/Verschwinden begründete die Sebastianismus Bewegung, deren Anhänger dem messianisch mystifizierten König eine Wiederkehr als Erlöser prophezeit haben
[iii] Teixeira de Pascoaes – Dichter und Mystiker, 1877 – 1952, Begründer der Renascença Bewegung, Verfechter des saudosismus als Stigma Portugals, Direktor der Literaturzeitschrift A Águia
[iv] Fernão Mendes Pinto – 1514-1583 – Abenteurer, Entdecker, Schriftsteller – Memoiren „Pilgerreise“ – erster Kritiker am Kolonialismus als Ausbeutung unter dem Vorwand einer religiösen Mission
[v] Fernando Pessoa – 1889-1935 – Bedeutender Dichter und Denker Portugals mit eigenem Hauptwerk zzgl vier Nebenwerken von Ricardo Reis, Álvaro de Campos, Alberto Caeiro und Bernardo Soares. Als Begründer der Avantgarde und der Literarischen Moderne in Portugal revolutionierte Pessoa die Literatur in seinem Land grundlegend, ohne mit der Tradition zu brechen. Sein „Buch der Unruhe“ wurde als literarische Sensation gefeiert. Pessoas literarischer Nachlass ist nationales Kulturerbe und nach wie vor nicht vollständig entschlüsselt.
[vi] Mário de Sá Carneiro – Dichter und Mitbegründer der Literarischen Moderne – 1890-1916
[vii] Florbela Espanca, Lyrikerin, deren Sonettsammlung mit knapp 200 Werken in drei Zyklen ausschließlich Empfindungen und Gedanken ihres eigenen Lebens poetisch spiegeln. Die intimste Dichterin der Avantgarde machte sich zum 36. Geburtstag den Freitod zum Geschenk
[viii] José Saramago, 1922-2010 – Schriftsteller, Romancier, Tagebuchautor, Essayist. Literaturnobelpreisträger 1998 für die Dystopie „Die Stadt der Blinden“
[ix] Miguel Torga, Schriftsteller, Lyriker, Oppositioneller und Arzt, 1907 bis 1995, Verfechter der späten Phase des Modernismus, mehrfach übersetzt von Curt Meyer-Clasen
[x] Augustina Bessa-Luis, Schriftstellerin Gegenwartsliteratur – 1922-2019 – Die Sybille und Fanny Owen, beide Suhrkamp Verlag. Etlicher ihrer swerke wurden verfilmt von Meisterregisseur Manoel de Oliveira, zum Beispiel, „Das Kloster“ mit Catherine Deneuve und John Malkovich
[xi] Lídia Jorge, Juni 1946 – Schriftstellerin, deren erste Werke die Aufarbeitung der Vergangenheit der Kolonialerfahrung einfängt. Ihr Roman „Die Küste des Raunens“ wurde unter dem Titel „Es war einmal in Afrika“ verfilmt. Lídia Jorges Werk wurde bisher mit etlichen Literaturpreisen geehrt, zuletzt in 2020 mit dem FIL-Preis für Literatur in romanischer Sprache.