Natalia

von Nadine Wilmanns

Er kommt nicht mehr. Ich bin für ein paar Wochen weggeflogen, und er hat wohl gefragt, wo ich bin. Meine dumme Kollegin, die ich eigentlich gar nicht dumm, sondern nett finde, hat zu ihm gesagt, ich sei gegangen und komme nicht wieder. Er habe dann nicht weiter nachgefragt und sei gegangen, sagt die Kollegin mir jetzt. Und seitdem ist er nicht wiedergekommen.

“Bestimmt hat er sich für eine andere Route einteilen lassen, weil er so schrecklich traurig ist, dass du nicht mehr da bist”, will die Kollegin witzig sein. Jemand anders bringt jetzt die Pakete, die ich seit heute wieder – zurück bei der Arbeit – entgegennehme.

“Ich hab’s ruiniert”, lacht die Kollegin, die immer noch nichts begriffen hat. Ja, verdammt, will ich sagen. Stattdessen sage ich, dass ich Mittagspause mache. Hastig schnappe ich Jacke und Zigaretten und gehe nach draußen. Ich kann es nicht fassen, gehe wie auf Watte.

 

“Eine heiße Schokolade”, ich zünde mir eine Zigarette an. Es ist eigentlich zu kalt und windig, um rauchend draußen zu sitzen, aber an Tagen wie diesen muss man seine Nerven stärken. Ich war gut gelaunt zurück ins Ländle gekommen. Ich mag meine Arbeit und hatte nichts dagegen, wieder hier zu sein. Ich sitze mit fünf gesprächigen Kolleginnen in einem großen Raum, wir hören Musik, tauschen uns aus, lachen uns tot. Unser Atelier ist gleichzeitig die Eingangshalle, daher gibt’s hier ein ständiges Ein und Aus. Leute fragen was, wollen was abgeben, verlaufen sich, …Meine Kolleginnen sind regelmäßig genervt davon. Ich freue mich.

Ich arbeite als Modellmacherin, das heißt, ich bin Architektin für Kleidungsstücke. Das geht hier noch ohne Computer, stattdessen mit Schere und Papier. Dafür nehme ich in Kauf, dass die Bezahlung mies ist. Nicht gerade typisch für jemanden, der im Schwabenländle aufgewachsen ist, in dem man so diszipliniert schafft, schafft und Häusle baut.

Ich baue keine Häusle, sondern wohne in einem kleinen Zimmer, und ich übertreibe es auch nicht mit ehrgeizigem Schaffen. Vielleicht sollte ich das. Meine Mutter meinte früher, ich würde mal reich heiraten. Sie hat das eigentlich schon seit einiger Zeit nicht mehr gesagt. Lieber hält sie mir Vorträge zu privater Altersvorsorge und Pflegeversicherungen.

Ich glaube, ehrlich gesagt, auch nicht mehr daran, eines Tages reich zu heiraten, denn wenn ich mich verliebe, dann in aller Regel in niemand Reiches.

 

Ich strahle immer, hat er zu mir gesagt. Dabei hat er auch immer gestrahlt.

„Ist doch klar, dass ich zurückstrahle, wenn mich jemand anstrahlt, oder?”, sage ich.

Er grinst und geht wieder. Ich mag Menschen einfach gerne, zumindest im Beruf. Privat bin ich eigen, aber Schwätzle bei der Arbeit machen den Tag doch gleich viel netter. In letzter Zeit fand ich’s besonders nett und mir dämmert jetzt, warum.

Ich hoffe, es ist ihm nichts Schlimmes passiert. Vielleicht hat er sich ja nur das Bein gebrochen, mit gebrochenem Bein kann man nicht Minibus fahren. Oder Arm. Das geht ja dann auch nicht. Hoffentlich nichts am Kopf. Oder Schlimmeres. Mir ist ein bisschen schlecht geworden, deswegen lasse ich die Schokolade stehen und stehe auf, um eine Runde zu drehen. Oder könnte es tatsächlich sein, dass er wegen mir nicht mehr diese Route fährt?

„So ein Unsinn”, sage ich laut und etwas leiser, „jetzt führe ich schon Selbstgespräche.”

Er war mir erst gar nicht weiter aufgefallen. Wir haben uns eben immer kurz unterhalten, wenn er sein Paket ablieferte, und er hat mir nicht geglaubt, dass ich nicht Natalia heiße, nachdem ich wochenlang auf den Namen Natalia reagiert hatte. Ich hatte das nur der Einfachheit getan, weil die Pakete, die hier ankommen, fast alle für Natalia sind, die oben arbeitet, ich sie aber hier unten annehme.

 

Irgendwann meinten die anderen jedenfalls, er sei in mich verliebt. Und ich hab gelacht und gesagt: „Ach Quatsch”. Und: „Er ist viel zu klein für mich.”

Das ist er auch. Ich bin ziemlich groß, ein Meter sechsundsiebzig. Er ist eher nicht so groß, dazu schmal. Ich bin schlank, aber schmal kann man nicht sagen. Da fällt mir ein: In meiner Nachbarbarschaft wohnt auch jemand, der klein und schmal ist und mit einer Frau verheiratet, die um Einiges größer ist als er.

Er hat lachende Augen und Humor. Und er spricht schönes Hochdeutsch, was hier im Ländle nicht so oft vorkommt. Er ist immer im Hoody unterwegs, und er bringt mich zum Lachen und macht, dass ich rot werde. Er mag kein Weihnachten, hat er gesagt. Wir haben die ganze Vorweihnachtszeit über Weihnachts-Playlists hoch und runtergehört. Das mochte er dann doch, glaube ich, denn er hat manchmal kurz dazu gepfiffen, wenn er reinkam.

Irgendwann hatten wir’s von Geschenken und bei der Gelegenheit sagte er in die Runde, dass er solo sei – falls jemand auf ein Date mit ihm wolle. Er hat das als Scherz gesagt und dabei gelacht.

„Jetzt ist alles klar”, meinten meine Kolleginnen aber, als er gegangen war, und ich habe nur gegrinst und „Quatsch“ gesagt. Wäre ich ihm nur hinterhergelaufen und hätte gerufen: „Ok – wann?”

Nun ja, das ist nicht passiert. Nach dem heutigen Morgen wäre es aber vermutlich passiert. Jedenfalls weiß ich jetzt Bescheid, wie ein Mann eine Frau rumkriegen kann: Erst dafür sorgen, dass die Frau denkt, er sei in sie verliebt und dann nicht mehr da sein. Nur dass er dann irgendwann doch wiederauftauchen muss, sonst könnte sich ja das eigentliche Rumkriegen nicht ereignen.

 

Das hat er aber nicht getan. Das Ende ist immer das Schwierigste. Ich habe nicht herausgefunden, was mit ihm passiert ist, an dem Tag als er dachte, ich sei weggelaufen. Später, wieder an meinem Schreibtisch, kommt der neue Kurierfahrer, und mir sinkt das Herz. Ich will fragen, aber außer „Hallo” kann ich nichts sagen. Was, wenn er mir sagt, dass sein Vorgänger einen schlimmen Unfall hatte? Oder, dass er nichts über ihn weiß? Schon ist er aus der Tür. „Morgen”, nehme ich mir vor. („Oder bald”.)

 

Aber ich will mir für Sie, lieber Leser, ein schönes Ende ausdenken. Und für mich auch, denn ein trauriges Ende würde mir ein bisschen das Herz brechen. Und auch für dich, Junge, dessen Namen ich nicht mal weiß, weil ich mir für dich nur gute Enden wünsche. Ich frage nun also den Kurierfahrer, der an deiner Stelle Pakete bringt, nach dir. Er weiß gar nichts. Ich rufe der Kurierfirma an, doch die haben keine Zeit für solche Faxen. Ich schreibe der Firma eine Email. Keine Antwort.

Später in dieser Woche sehe ich einen Minibus deiner Firma – wenn es denn überhaupt noch deine Firma ist. Er blockiert die halbe Straße, deswegen ist er mir aufgefallen. Du sitzt nicht drin. Nervös warte ich kurz und tue so, als wäre ich mit meinem Handy beschäftigt, aber als niemand kommt, komme ich mir blöd vor. Langsam gehe ich weiter. Da fällt mir was ein, und ich krame hastig einen Kuli und einen alten Kassenbeleg aus meiner Handtasche hervor.

„Grüße von Natalia”, schreibe ich. Fast renne ich zurück zum Bus und klemme den Zettel unter den Scheibenwischer.

 

Nichts passiert. Nicht am nächsten Tag und auch nicht die restliche Woche. Du kommst nicht wieder. Es wäre ja auch ein zu krasser Zufall gewesen. Ein paar Tage später sehe ich einen anderen Bus deiner Firma – oder ist es derselbe? Ich schreibe wieder einen Zettel „Grüße von Natalia”.

Mittlerweile habe ich bestimmt zwanzig Zettel geschrieben. Ich denke, ich lasse das jetzt besser, denn wenn jemand wiederholt einen Zettel mit Grüßen von Natalia an seiner Windschutzscheibe findet, könne er es mit der Angst zu tun bekommen – vor allem wenn er zuvor noch nie von einer Natalia gehört hat.

Und dann bist du doch gekommen. Grinsend und die Hände in den Hosentaschen bist du hereingeschlendert, als sei nichts gewesen. Und ich habe gar nichts gesagt. Wie ein bescheuerter Idiot habe ich zurückgegrinst und du bist einfach hinter meinen Schreibtisch marschiert, und hast mich zu dir hochgezogen.

Dein Kuss schmeckt lecker. Das hast du schlau gemacht: Du hast irgendwas mit Honig gegessen, bevor du hergefahren bist. Du weißt, dass ich Honig mag, denn ich habe Duzende Honigsticks für meinen Tee auf meinem Schreibtisch rumliegen. Du bist auch nicht so viel kleiner als ich, jetzt wo wir beide direkt voreinander stehen. Ein paar Zentimeter schon, aber man kann sich gut küssen, ohne dass sich einer verrenken muss.

 

Draußen regnet es, und deine Jacke ist nass. Aber alles strahlt.

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