Cover Not Available Ventil-Verlag

Nicht verfügbar – ein amüsantes Sachbuch zum Musik-Thema Platten

Rezension von Dieter Feist

Daniel Decker: Not Available. Platten, die nicht erschienen sind. Ventil Verlag, Mainz 2021; ISBN 978-3-95575-143-2, 248 S., Broschur, 17,00 €(D)

Ich habe mir schon eine Menge Sachbücher über Musik zu Gemüte geführt, und nicht viele davon waren wirklich gut zu lesen – Sachbücher eben. Je höherwertig das Sujet in der kulturellen Wahrnehmung (Stichwort: Hochkultur), desto schwieriger. Man muss gar nicht den alten Großmeister Adorno mit seinen sperrigen Analysen und Philosophien bemühen, auch der Jazz ist längst zur Kunstform erhoben, mit langen Regalmetern trockener, wissenschaftlicher Veröffentlichungen, und auch die Rock- und Pop-Musik ist vielfach Gegenstand von detailversessenen musikwissenschaftlichen Analysen. Ist ja auch gut so, wenn man alles ganz genau wissen will, muss man da durch, und ich wende mich beileibe nicht gegen ernsthafte Auseinandersetzungen (die ich ja auch gelesen habe).
Dabei geht es aber doch um Musik, dieses physikalische Schallereignis, das am allerunmittelbarsten unsere Psyche erreicht und unsere Emotionen rührt. „Und was ist der Zweck?“ fragte Friedrich Gulda einst und gab gleich selbst die Antwort: „Der Zweck ist, dass man Spaß hat.“

Jetzt also ein weiteres Sachbuch: „Not available – Platten, die nicht erschienen sind“ von Daniel Decker*. 243 Seiten voller Fakten, Beschreibungen und Analysen, die Literaturliste umfasst mehr als sechzig Titel und es gibt eine 62-seitige, sorgfältig recherchierte Diskografie.
Aber (jetzt kommt das große ABER): dieses Buch ist richtig gut zu lesen! Sachbücher befinden sich, zur gefälligen Verwendung, meistens auf dem Arbeitstisch, dieses aber liegt auf meinem Nachtkasten. Und ich schlafe nicht dabei ein (ein, zweimal, zugegeben, aber da war ich wirklich fertig, und es lag bestimmt nicht an diesem Buch).
Daniel Decker ist das Kunststück gelungen, ein kurzweiliges Sachbuch zu schreiben und genau das war seine Absicht, wie er im Vorwort anmerkt:
„Eine Sammlung von Anekdoten, Mythen, Recherchen und Lügen, Interessantes aus der jüngeren Musikgeschichte, Geschichten übers Scheitern und Klischees von bösen Plattenfirmen, die der wahren Kunst im Wege stehen oder mit frevelhaften Verträgen neue Werke ebenso verhindern wie provozieren. Mir bleibt die Hoffnung, dass dieses Buch eine unterhaltsame Fakten-Schleuder ist, die für amüsanten Trivia-Talk beim hiesigen Treffen der Musiknerds sorgt.“

„Platten, die nicht erschienen sind.“ Natürlich denkt man da als erstes an Verträge, mit denen Künstler*innen geknebelt werden; nach dem ersten Hit hochgejubelt und in allen Medien beworben solange die Verkaufszahlen stimmen, dann ganz schnell fallengelassen, wenn das Publikumsinteresse nachlässt. Schon wenn man an Pop nur rezeptiv interessiert ist, kennt man das: die Band, auf deren Musik man grade noch abgefahren ist, scheint plötzlich in der Versenkung verschwunden. Eine weitere Single vielleicht – dann ist nichts mehr zu hören. Auf solche Mechanismen geht ein großer Anteil an nicht veröffentlichtem musikalischem Material zurück, deshalb sind sie gleich Thema der ersten beiden Kapitel. Erfolgsabhängigkeit, Vermarktungshoheit, unsichere Verträge, juristische Auseinandersetzungen; Kunst vs. Business. Sonny & Cher und den Kinks ging es zum Beispiel so, Adam Ant, den Bee Gees, Prince und Frank Zappa, Dylan, Lennon, die Liste ist lang, sogar Monty Python ist dabei – die vom Flying Circus. Ungehörte Platten, unerhörte Musik.
Aber, schreibt Decker, „Letztendlich reden wir bei aller Kunst hier von einem Geschäft. Auch in der Musikbranche geht es um Geld und Gewinnmaximierung.“ Warum also sollte hier etwas anderes gelten, als anderswo in unserem kapitalistischen System.
Die Musikindustrie ist, „wie der Name bereits sagt, vor allem eins: eine Industrie. Sie gehorcht den Gesetzen des Marktes…“ Wovon wir alle – in ganz unterschiedlichen anderen Bereichen – ja durchaus gerne profitieren.

Es sind aber nicht nur die „bösen Plattenfirmen“, die dafür sorgen, dass Musik nicht zu den Hörern gelangt, oft genug stecken die Künstler*innen selbst dahinter – aus den unterschiedlichsten Gründen. Davon handeln die weiteren Kapitel.
Zum Beispiel von Platten, die geplant waren, deren Produktion sich jedoch so quälend und zermürbend gestaltete, dass schließlich etwas ganz anderes dabei herauskam; wenn nicht zuvor die Band auseinanderbröckelte. Im dritten Kapitel wurde ich, ganz nebenbei, auch darin bestätigt, was ich schon lange vermutet hatte: es war nicht Yoko Ono, die die Beatles auseinanderbrachte; nach fast einem Jahrzehnt überbordender Kreativität waren die Fab Four ganz einfach fertig – auch miteinander; in einem letzten Kraftakt versuchten sie zu retten, was zu retten war. In den reichlich zehn Seiten, die Decker dem gescheiterten Projekt „Let It Be“ / „Get Back“ widmet, spielt Yoko Ono kaum eine Rolle. Ich erwähne diese Sache mit den Beatles auch nur deshalb so ausführlich, um zu zeigen, dass Decker auch kleine Abschweifungen nicht scheut, deren Nebensächlichkeit die Hauptsache umso mehr unterstreicht und illustriert.

Man kann die Inhalte dieses Buches nicht zusammenfassen, zu prall gefüllt ist es mit Fakten, von denen man selber lesen muss. Ein Rundblick über die Kapitelüberschriften verrät, wie breit gefächert das Thema angegangen wird:
„Das Scheitern an den eigenen Ansprüchen“, „Die Nichtverfügbarkeit als künstlerisches Konzept“, „Platten, die nie zur Veröffentlichung geplant waren“ usw. Beim Undsoweiter geht es etwa um Pietät, Diebstahl, Verlust und Zensur, und dann kommt schließlich auch noch das: „Platten, die letztlich doch noch erschienen“.

„Not Available“ – ein weiteres Sachbuch in meiner Sammlung, in der es, wie erwähnt, ein paar richtig furztrockene Exemplare gibt.
Daniel Decker hätte ja auch so eine Schwarte schreiben können, zum Beispiel mit dem Untertitel: „Ein soziologischer Abriss über das Phänomen nicht veröffentlichter Tonträger sowie den ökonomisch-kulturellen Diskurs zwischen Künstler*innen und den gewinnorientierten Strukturen des Distributionsapparates, vor dem Hintergrund des musikhistorischen Narrativs über die künstlerische Schöpfungskraft in der sog. Rock- und Popmusik zwischen 1958 und 2018, in ihrer Wirkung auf die individuelle Perzeption bzw. ihre Wirkmächtigkeit hinsichtlich manifester oder virtueller Medien, in denen…
Hat er aber nicht.
Dieses Sachbuch ist in einem schnörkellosen Erzählton verfasst, ganz so, als würde man dem Autor gegenübersitzen und ihm zuhören; und dürfte ihn angelegentlich auch unterbrechen.
„Augenblick mal, Herr Decker, das grade eben hab ich nicht genau verstanden. Wie war das nochmal mit…?“
Spätestens im übernächsten Absatz ist meine Zwischenfrage beantwortet.
Ich denke, man ahnt schon, worauf meine Besprechung hinausläuft: wer an Rock- und Popmusik interessiert ist, gern auch etwas über Zusammenhänge im Hintergrund erfährt, wer, bei aller Ernsthaftigkeit der Auseinandersetzung mit einem Stück Musikgeschichte, nichts gegen lockere Plaudereien, Anekdoten und – ja, auch das: – ein bisschen Tratsch einzuwenden hat, der*dem sei dieses Buch wärmstens empfohlen.
Eine „Fakten-Schleuder“ fürwahr, und ein unterhaltsames Sachbuch, das bestimmt zu mehr taugt, als bloß zum „amüsanten Trivia-Talk beim hiesigen Treffen der Musiknerds“!

Netfinder:
Zum Autor
Der Autor ist im Internet zu finden (und es lohnt sich, da mal reinzuschauen)
auf seiner Webseite: https://www.daniel-decker.de/
auf seinem Blog: https://www.kotzendes-einhorn.de/blog/ ; hier gibt es auch eine Playlist zum Buch mit 50 ausgewählten Songs
Daniel Decker veröffentlicht außerdem auf: https://jahrgangsgeraeusche.de/author/dr-dreh

Auch auf den Ventil Verlag, in dem Deckers Buch erschienen ist, sei am Schluss wegen seines vielversprechenden, breitgefächerten Verlagsprogramms noch hingewiesen.
https://www.ventil-verlag.de/

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