Norbert Groß
von Parker Heimlich
Noch immer rauschten Despinas Worte durch seinen Kopf: „Dir sollte man das Ding abschneiden. Verzieh dich.“
„Womit beruhigt man eine verzweifelte Griechin?“, dachte Norbert laut und fuhr Richtung Marktplatz. „Richtig, mit deutschen Steuergeldern.“
„Vom Stadtrat aus kannst du deine Fühler in allerlei Richtung ausstrecken“, hatten ihm die alten Hasen eingeschärft, die ihn damals anlernten. Einer von den Blutsaugern meinte sogar, es käme einer Götterrolle gleich.
Die pensionierten Herrschaften wären stolz, wenn sie wüssten, was ich da im Auge habe, dachte er und verkündete dem Duftbaum: „Ich heiße nicht umsonst Norbert Groß.“
Er schlenderte zum südlichen Zipfel des Marktplatzes. Vorbei an den Blumen- und Obstständen. Bei letzterem ließ er einen Apfel und zwei Kirschen mitgehen. Zwei Minuten später stand er vor dem Gemüsestand eines alten Bekannten. „Mensch, Rudi, lange nicht gesehen.“
„Aber doch wieder erkannt.“
Norberts Aufmerksamkeit war hinter Rudis Schulter gewandert. „Hm?“
„Ich sagte: aber doch wieder erkannt.“
„Wer ist das da?“
Rudi beförderte einen Korb Karotten auf die Waage und griff nach Norberts Hand, um sie samt des ausgestreckten Zeigefingers zu senken. „Mein Enkelkind.“
„Seit wann hast du so was?“
„Ziemlich genau zwanzig Jahre.“
„Warum wusste ich davon nichts?“
„Es hat dich nie interessiert.“
„Jetzt hör aber auf.“ Norbert legte die Stirn in Falten, rieb sich das Kinn.
„Was kann ich dir anbieten, Norbert?“
„Ich habe dir was anzubieten, Rudi.“
„Ich brauch keine Eintrittskarten für ein Drittligaspiel.“ Rudi trank einen Schluck Wasser und fuhr sich mit dem Handrücken über die Lippen.
Norbert erinnerte das an die Zeiten, als Rudi statt der Wasserflasche einen Flachmann in den Händen hielt. „Die Spiele waren nicht schlecht.“
„Wenn man auf Abstiegskampf steht.“
Norbert griff sich eine Kartoffel und rollte sie wie eine Billardkugel durch die Hand. „Der Abstieg kommt immer vor dem Aufstieg, vergiss das nicht.“
Rudis Enkelkind hatte höflich gewartet, bis die beiden Männer ausgeplaudert hatten, bevor er seine Frage stellte.
„Wenn hier keine Zwiebeln mehr sind, Lukas, dann hol welche aus dem Transporter“, entgegnete Rudi ihm geduldig.
„Was hat er da im Gesicht?“, fragte Norbert.
„Eine Knastträne.“
„Deswegen hast du nie was von ihm erzählt.“
„Doch, du hast nur nicht zugehört.“
„Wie dem auch sei. Ich kaufe deinen Gemüsestand und biete dir einen Batzen Geld.“
Rudi gluckste. „Und dann? Machste eine Zweigstelle für deinen florierenden Kartenhandel draus?“
„Meiner Frau fällt die Decke auf den Kopf. Sie findet keine Hobbys mehr.“
„Das hier ist aber kein Hobby, Norbert. Das ist harte Arbeit.“
„Das werde ich ihr dann schon verklickern.“
„Weil man sich als Beamter auch so gut damit auskennt, nicht wahr?“
„Sehr witzig. Hast du noch ein paar Kichererbsen da?“
Rudi bediente eine alte Dame mit Paprika und kassierte sie ab.
„Zwanzigtausend Euro. Das ist doch ein toller Start in die Rente. Würde die Verluste deiner etlichen Rehamaßnahmen wieder einspielen.“
Rudi hielt kurz inne, entsorgte einen verdorbenen Meerrettich im Mülleimer. „Wie bist du da rangekommen?“
„Beamte sind eben gar nicht so faul, wie du denkst.“ Alter Säufer, fügte er in Gedanken hinzu.
„Ich fass es nicht.“
„Komm schon. Du wärst ab morgen frei. Oder sagen wir übermorgen.“
„Das bin ich schon. Lukas muss frei bleiben.“
„Ich verstehe nicht.“
„Lukas ist noch zwei Jahre auf Bewährung. Der Junge braucht einen Job, sonst geht er wieder ab.“
Es war nicht das erste Mal, dass solche Schlappschwänze hinter dem Stand herumwuselten. Da kannte man sich so lange, und nie wurde man ins Bild gesetzt, was die Personalangelegenheiten anbelangte, stellte Norbert grätig fest. Zu allem Übel spielte Rudi sich dann immer wie ein Heilsbringer auf. „Ist das dein Problem?“, fragt er streng.
„Es ist meine Familie“, sagte Rudi und öffnete beide Handflächen, als stünde die Weisheit darin geschrieben.
Lukas erntete einen spöttischen Blick von Norbert, als er die Zwiebeln auf dem Verkaufsstand positionierte.
Anschließend wurde Norbert von einer Lehrerin beiseitegedrängt, die ihren Schülern im Stile eines Marktschreiers zu den Gemüsesorten befragte.
Er massierte sich nachdenklich die Stirn und ging weitere Optionen durch. Sein Kontakt beim Rententräger, der einen regelmäßig in die Warteschlange warf und die gesamte Mittagspause kostete, war abgegrast. Despina (was im Griechischen so viel wie die Herrin bedeutete) würde bald den gesamten Olymp mobilisieren, um ihm den Hintern zu versohlen. Und mit vierundfünfzig Jahren steckt man so etwas nicht mehr so gut weg, wie ein Zwanzigjähriger, der sein Antlitz mit einer Knastträne aufpoliert. Er brauchte Ergebnisse.
Er ließ eine Zwiebel bei Rudi mitgehen und murmelte: „Ich heiße nicht umsonst Norbert Groß.“
Norbert bereitete sich auf eine Nacht in seinem Auto vor. Despina hatte den Haustürschlüssel von innen stecken gelassen und die Klingel ausgestellt. Er war Rudis Lieferwagen bis zu einer Kneipe gefolgt, in der sich der Gemüsehändler früher immer volllaufen ließ. Lukas, Rudis Enkelkind, stieg aus und betrat den Schuppen. Norbert schnappte sich einen der albernen Spuckschutzhüte, dessen Beschaffung er durch den Stadtrat gebracht hatte, um die Politessen vor Angriffen wütender Falschparker zu schützen.
Bevor er die Kneipe betrat, riss er den transparenten Gesichtsschutz ab, so dass er weitgehend wie eine normale Schirmmütze aussah. Norbert zog an einer filterlosen Zigarette und zerrte die Mütze ins Gesicht. Zwischen seinem und dem Qualm der anderen Gäste beobachtete er, wie Lukas zusammen mit dem Barkeeper verschwand. „Wusste ich es doch“, flüsterte er und zückte sein Handy (dankbar dafür, dass sein üppiges Gehalt ihm ein Gerät mit Weitwinkelobjektiv ermöglichte). Dutzende Male betätigte er bei der Rückkehr der Männer den Auslöser.
„Zerbrich dir mal nicht meinen Kopf“, schmunzelte Rudi am nächsten Tag, als Norbert ihm die Beweisfotos zeigte.
„Da ist doch eindeutig was am Laufen“, beharrte Norbert.
„Lukas sollte die Fahrzeugpapiere von unserem Freund holen, damit wir uns seinen Transporter leihen und unseren in die Werkstatt bringen können, wie oft denn noch?“
„Du hättest deren Gesichter dabei sehen sollen.“
„Hab ich doch gerade.“
„Live, meine ich. So was kann eine Handykamera doch gar nicht richtig einfangen.“
„Norbert, willst du was kaufen? Ansonsten muss ich dich bitten, zu gehen.“
„Stimmt irgendwas nicht?“, fragte Lukas, der gerade dazugestoßen war.
„Alles Paletti“, sagte Rudi. „Norbert braucht nur etwas Schlaf.“
Tz, dass ich nicht lache, dachte Norbert. Norbert Groß braucht nicht mal den Schlaf einer Giraffe, um für Gerechtigkeit zu sorgen.
Eine weitere Nacht im Auto war vergangen. Norbert hatte sich vor der Kneipe postiert und beobachtete die Übergabe der Autopapiere, den die beiden Männer gewissenlos auf die offene Straße verlagerten. Als sie in der Kneipe verschwanden, rief Norbert eine Politesse an, die ihm noch etwas wegen der Schutzhüte schuldig gewesen war.
„Aber der steht nicht im Parkverbot“, mahnte die Politesse.
„Auch ein Profi darf mal Fehler machen. Bevor es an den Papierkram geht, fällt dir der Fehler natürlich auf.“
„Was hat das Ganze dann für einen Sinn?“, fragte die Politesse unsicher.
„Habe ich mich so quergestellt, als es um die Hüte ging?“
„Wahrlich nicht.“
„Also. Papp dem ein Knöllchen ran und genieße die Show. Ich bin gleich wieder da.“
„Ach du großer Gott.“ Norbert eilte zu der Politesse, die am Boden lag. Sein Kontakt beim Oberlandesgericht hatte ihn bereits gewarnt, dass die Hand des Kneipenbesitzers etwas lockerer saß, doch dass es so schnell ging, hätte er nicht gedacht. Aber nun gut, dachte Norbert. An einem Handkantenschlag war noch niemand gestorben. Zumindest hatte er davon nichts gehört.
Lukas hatte alles getan, um so unbeteiligt wie möglich auszusehen, aber da er ein alter Bekannter für die Beamten war, wurde auch er in den Streifenwagen eingeladen.
„Ich heiße nicht umsonst Norbert Groß“, sagte er, streichelte sich den Wanst und blickte zu der Politesse, die gerade von der Rampe des Krankenwagens zurückkehrte. „Siehst doch schon wieder ganz gut aus.“
Nachdem Norbert den Beamten auf der Wache sein Herz über die brutale Vorgehensweise der zwei Täter ausgeschüttet hatte, war er mit einem Scheck über zwanzigtausend Euro in der Tasche (frisch vom Stadtkonto abgeschöpft – gebucht als Auslage für Restaurationen am Friedhofsgelände), auf dem Marktplatz eingekehrt. Er sah es als seine Pflicht an, Rudi als Erster über den Zwischenfall zu informieren. Bevor er an Rudis Stand herangetreten war, hatte er mit seinen langen Fingernägeln die Zwiebel, die er vor zwei Tagen mitgehen ließ, in der Hosentasche geschält und sich unter die Augen gerieben. In der anderen Tasche bewahrte er einen kleinen Flachmann auf. Nur für den Fall, dass man Rudi etwas herunterholen müsste. Unter Tränen sagte er, dass es ihm leidtäte, aber Lukas sei rückfällig geworden.
„In welchem Sinne rückfällig?“, fragte Rudi.
„Er wurde festgenommen“, schluchzte Norbert.
Der Gemüsestand war stark besucht. „Er wurde was?“, rief Rudi.
Norbert lehnte mit gegaukelter Nachsichtigkeit an einem Pfeiler. „Wir reden gleich.“
Nachdem sich der Ansturm gelegt hatte, schob Norbert Rudi den Scheck wie einen Glasuntersetzter über den Verkaufstisch.
Rudi tat den Teufel, auch nur einen Blick darauf zu werfen. Stattdessen fragte er: „Geht‘s wieder?“
„Mir tut das nur so leid für dich … und für Lukas natürlich auch.“
„Wir kommen schon klar.“
„Was wirst du mit dem Geld tun?“
„Ich sagte doch, komm in zwei Jahren wieder.“
„Und ich sagte, Lukas wurde festgenommen.“
„Es ist nett, dass du dir Sorgen machst, aber Lukas verspätet sich nur etwas. Er hat schon angerufen. Irgendein Missverständnis mit einer Politesse. Der Bengel hat echt ein Talent dafür, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein. Na ja, Gott sei Dank gab es eine gewissenhafte Kamera, die alles gesehen hat.“
Er hieß nicht umsonst Norbert Groß.
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