Omniverse – die Welt von Jimi Tenor zwischen Buchdeckeln
Rezension von Dieter Feist
Jimi Tenor: „Omniverse“, Ventil Verlag, Mainz 2022, ISBN 9783955751746, 192 Seiten, Hardcover, mit zahlr. Abb., 30 Euro (D)
What’s that?
Eine bebilderte Autobiografie? Ein Portfolio? Ein Rückblick auf ein Künstlerleben? Ein Bildband über…?
Bildbände über erfolgreiche Künstler*innen erscheinen oft nach deren Ableben, um den Ruhm noch ein wenig mit posthumem Merchandising am Leben zu erhalten. Aber Jimi Tenor lebt und erfreut sich (hoffentlich) bester Gesundheit.
Natürlich gibt es so etwas auch zu Lebzeiten; im Höhenflug des Erfolgs sorgen Labels und Verlage für eine gedruckte Ergänzung des medialen Hypes. „A Picture Journey“ über Jonas Kaufmann zum Beispiel, Großformat und kiloschwer, oder „Confessions“ über Madonna, in der Fläche nur wenig kleiner und ein bisschen schmaler, aber natürlich ebenso gewichtig. Weder Kaufmann, noch Madonna aber werden wohl persönlich zu diesen Veröffentlichungen beigetragen haben (abgesehen vom Posing, um sich ins rechte Licht zu rücken).
„Omniverse“ hat Jimi Tenor selbst verfasst und herausgebracht, und es ist kein protziger Riesenbildband, sondern ein optisch ansprechendes Buch, herausgegeben vom Ventil-Verlag, der eine feine Sammlung über Musik und Popkultur im Programm hat.
Neue Bücher erforsche ich erst einmal per Daumenmethode. Erster Eindruck: viele Fotos, dazwischen Texte, mehr zum Schauen als zum Lesen. Die Bildauswahl ist vielfältig, anregend, da und dort lese ich mich fest. Facetten. Schlaglichter. „Omniverse“ – die Welt des Jimi Tenor.
Von vorne: das verwackelte Titelbild wirkt sympathisch unperfekt, vor dem Innentitel dann quasi ein Begrüßungsfoto zum ersten Kennenlernen: ein schmaler Mann mit roter, wattierter Jacke, wuscheliger Pelzmütze und mächtiger Brille. Keine Heldenpose, da steht eher einer, der sich fragt, wie mir das Buch gefallen wird. Inhaltsverzeichnis: „Spaces, People, Actions, Objects, Art“ – das künstlerische Omniverse in einzelnen Kapiteln.
Auf der folgenden Doppelseite eine handschriftliche Einleitung. „Die Story“, schreibt der Autor, „ist eine persönliche Suche durch die Zeiten geschrieben in Musik und Licht und mit ein paar beiläufigen Worten.“ Klingt bescheiden und sehr persönlich. „Meine Reise hat kein Ziel…“, man könne das Folgende vielleicht chaotisch finden, aber „Ich bin ein Klang-Maler, der Alltägliches sammelt“.
An dieser Stelle klappe ich das Buch zu und begebe mich ins Internet. Jimi Tenor ist Musiker, also will ich erst einmal etwas hören. Zuvor noch schnell eine kleine Einstiegsinformation von Wikipedia: Finne, Ende fünfzig, heißt eigentlich Lassi Lehto, Multiinstrumentalist, lebt in Berlin und New York, es gab einen Club-Hit, musikalische Stichworte sind „Techno“, „House“, „Easy Listening“ und „Jazz“ – ein breites Spektrum.
Nach den folgenden anderthalb Stunden mit youtube-Videos bin ich überzeugt, dass Jimi Tenor diese wikipedia-Kategorisierungen für sich selbst wohl nicht stehen lassen würde. Was ich höre und sehe, ist ein Musiker voller Lust am Spielen und Experimentieren, und seine „Reise“ scheint wirklich „kein Ziel“ zu haben, außer auf etwas Neues zu stoßen und es auszuprobieren. Auch wenn mir nicht alles gefällt; diese Art von kreativen Musiker*innen, die sich offenbar nicht in Schubladen einordnen wollen, finde ich allemal interessant. Merkwürdig, dass mir Jimi Tenor bei meinen Web-Ausflügen noch nie aufgefallen ist.
Ich schlage das Vorwort wieder auf. „Ich lade euch ein zu meinen Geschichten und zu meinen Bildern…“
Also – hinein in Jimi Tenors gedrucktes „Omniverse“.
Es muss um 1970 gewesen sein, als die schnöden Pappumschläge der LPs zu „Plattenalben“ wurden, oft mehrseitig und mit Text und Bildern. Ich war begeistert. Nicht mehr nur die Musik sprach mich an, sondern reichhaltige Liner Notes und Credits, die ich gleich las, nachdem ich die neugekaufte Scheibe auf den Plattenteller gelegt und vorsichtig den Tonarm aufgesetzt hatte.
Außen waren die Musiker*innen kunstvoll in Kostümen abgebildet, drinnen aber work-in-progress fotografiert, an Mikrofonen und Instrumenten, beim Abhören der Aufnahmen oder in fröhlicher Runde mit Bierdosen in der Hand nach getaner Arbeit. Dies alles im Ambiente von mit den verschiedensten Geräten vollgestellten Studios inklusive sich schlangenartig ringelnder Kabelstränge, übervoller Aschenbecher und riesiger Mischpulte.
Das Gehörte bekam damit Gesicht, Gestalt, Umgebung und Leben. Janis Joplin, die ihr Letztes beim Singen gibt, Ian Anderson, auch im Studio beim Flötespielen das linke Bein nach oben winkelt wie ein Storch. Und die liner-notes erzählten die Geschichten dazu. Duane Allmans „Les Paul“ unterscheidet sich im Sound deutlich von Eric Claptons „Strat“ (jetzt hörte ich es auch), die angerauchte Zigarette war geschickt zwischen die Saiten am Stimmbrett geklemmt. Joe Zawinul eingemauert in eine Burg aus wenigstens acht Tasteninstrumenten, von denen er – sorgfältig programmiert – vier gleichzeitig bespielen kann. Ich fand so etwas faszinierend. Musik ist nicht nur der Sound aus den Lautsprechern; es sind auch die Bilder und Texte, die sie zum Klingen bringen.
Ein bisschen ist es auch in „Omniverse“ so wie bei diesen Alben. Jimi Tenor im Aufnahmestudio, umgeben von Geräten, die Kabelstränge ringeln sich und die Aschenbecher sind voll. Fast liebevoll beschreibt er das eine oder andere Instrument in seiner Handhabung und Wirkungsweise, und oft handelt es sich nicht um modernste Elektronik, sondern um wahre Fossilien; und es wird erklärt, warum es diese sein müssen, und nicht die Erzeugnisse modernster Technologie.
Ich stelle fest, dass ich so etwas immer noch gerne lese. Auch die Kapitel über Mit-Musiker*innen – manchmal zufällig getroffen oder kennengelernt –, die aber das musikalische Omniverse offenbar bereichert haben.
Hier ist es andersherum als bei einem LP-Album: erst, wenn man auch die Musik gehört hat, bekommt das alles noch mehr Sinn. Jimi Tenor ist ein musikalischer Triebtäter, ständig auf der Suche nach neuen Möglichkeiten, aber nur zu dem Zweck, diese ins eigentlich Unmögliche, ins Unerhörte fortzuführen. Kein Grenzgänger. Ein Grenzüberschreiter.
Seit den „Leningrad Cowboys“ ist die Musik Finnlands mit dem Etikett „skurril“ besetzt; in der mitteleuropäischen Wahrnehmung besteht seit Sibelius ohnehin eine weite Lücke. Ich muss bekennen, dass ich von der finnischen Kultur im 20. Jahrhundert herzlich wenig Ahnung habe, gehe aber davon aus, dass sie – am Rande Europas – nicht entsprechend gewürdigt wurde und wird; aber auch davon, dass sie – gerade wegen dieser Randposition – prädestiniert war und ist, eine besondere Rolle einzunehmen – und Grenzen zu überschreiten.
Lassi Lehto, 1965 im finnischen Lahti geboren, begann im eigenen Land eine erfolgreiche musikalische Karriere. Der Künstlername Jimi Tenor entstand, als er die Grenzen Finnlands hinter sich ließ. Seither ist er in Berlin, New York und anderen angesagten Orten in der Welt unterwegs.
Jimi Tenor, der exotische Finne, der auch Grenzen überschreitet, indem er sich mit Musik anderer Kontinente auseinandersetzt, der aber nicht bei der Musik stehen bleiben will, sondern sich auch an kulturellen Projekten beteiligt und öffentliche Aktionen veranstaltet. Selbst das Entwerfen und Herstellen von Bühnenkleidung oder das Erfinden und Entwickeln von Instrumenten werden zum Teil des künstlerischen Prozesses.
Davon berichtet das Buch in den sorgsam getrennten Kapiteln. Die großformatigen Fotos sind dabei mindestens ebenso wichtig wie die erläuternden Texte, ungeachtet, ob es sich um „künstlerische“ Aufnahmen oder Schnappschüsse handelt – oft erzählen sie eigene Geschichten.
Allerdings wird es, je weiter ich ins Omniverse vordringe (bzw. im Buch nach hinten), manchmal etwas unübersichtlich. „My lowly fight against entropy was chaotic at times, you may find“, hieß es im Vorwort und das bewahrheitet sich nun; aber das gilt für mich, für Kenner der Materie sollte das kein Problem sein.
What’s that? hatte ich mich nach dem ersten Durchblättern gefragt. Die anfängliche Befürchtung hat sich nicht bewahrheitet; nein, es ist kein „Bildband über…“ wie die schwergewichtigen Schwarten über Jonas Kaufmann und Madonna, schon deswegen, weil der Ventil Verlag nicht Jimi Tenors Label ist.
„This is my contribution in the artform of books“, steht im handschriftlichen Vorwort. Vielleicht hätte das Medium Buch, in seiner physischen Gestalt eines Stapels Papier zwischen Pappdeckeln, in seiner „Kunstform“ noch mehr hinterfragt und kreativer gestaltet werden können. Aber das ist keine Kritik, nur eine persönliche Anmerkung.
„Enough of ranting“, schreibt Jimi Tenor, „let’s have a look!“
Genau. Dieses Buch – das soll am Schluss stehen – empfehle ich wärmstens allen Jimi-Tenor-Fans und denen die es werden wollen, bzw. solchen (wie
mich), die auf diesen bemerkenswerten Musiker gestoßen sind und sein „Omniverse“ näher kennenlernen möchten.