Hemd oder Hose (c) Walther 2023

Riss

Geschichte von Sigune Schnabel

Frau Maas hat wieder von einem angebrochenen Tag geredet. Dass ich ihn genießen soll. Sie denkt nicht darüber nach, was sie sagt. Das weiß ich. Sonst wäre ihr längst aufgefallen, dass Tage nicht mehr halten, dass sie von einer Seite auseinanderfallen, wenn sie einmal angebrochen sind. Der Riss ist ein Vorbote für ein frühes Ende.
Bei meiner Frühstücksdose war das schließlich der Fall. Erst hatte sie einen feinen Riss, oben am Deckel, bald wurde er tiefer, und eines Morgens hielt ich zwei Teile in der Hand. So ist das Leben. Zerteilt. Die Anzahl der Stücke ist unterschiedlich. Es spielt keine Rolle. Auf jeden Fall kann ich solche Tage nicht gebrauchen.
Meine Freundin Gerda weiß das, und ich habe schon viel von ihr gelernt. Brüche sind wie Krankheiten, aber für Dinge. Sie gehen nicht mehr weg. Hast du sie einmal, bleiben sie. Wenn die Zeit reif ist, zergliedern sie dich: erst innerlich, Stück für Stück. Anschließend nehmen sie sich den Körper. Er gehört ihnen. Wir werden dazu erzogen, „mein Körper“ zu sagen, „Du sollst deinen Körper pflegen“. Frau Maas ist gut in solchen Sätzen. Aber sie sind Unsinn. Das Besitzverhältnis ist falsch. Eine bloße Behauptung. Deshalb ignoriere ich sie. Jedenfalls versuche ich es.
Wie ich darauf komme? Das hat mich noch keiner gefragt. Mir hört nämlich niemand zu. Jedenfalls nicht hier.
Dabei habe ich viel zu erzählen. Alle Wünsche, beispielsweise, die ich noch habe, sind angebrochen – so wie dieser Tag. Mit angebrochenen Wünschen kannst du nichts anfangen. Deshalb sitze ich hier.

Gerda möchte, dass ich sie nehme, die Wünsche, und sortiere; vielleicht gehen sie ja nicht gleich morgen entzwei. Aber ich will sie schonen. Hier draußen, wo sie jeder sehen kann, sind sie vielen Einflüssen ausgesetzt. Ich glaube nicht, dass das gut ist.
Ob mir das nicht schwerfällt? Ich mache es kurz: Die Gesellschaft hat mich nicht dazu erzogen, Bedürfnisse auszuleben. Mein Leben war hart. Wer gibt mir die Genehmigung, Ansprüche zu stellen? Ich habe nur eine Erlaubnis, und das ist, hier zu sein. Wie lang sie gültig ist, weiß keiner.

Frau Maas spricht manchmal von einem Ablaufdatum. Aber darüber will ich nicht diskutieren, schon gar nicht mit ihr. Natürlich verwendet sie ein anderes Wort, sie ist nicht gut darin, Dinge beim Namen zu nennen.
In letzter Zeit verhält sie sich immer merkwürdiger. Sie fragt, welche Grablichter mir am besten gefallen. Und ob ich immergrüne Pflanzen mag. Ich verneine; natürlich lüge ich hin und wieder ein bisschen, aber das darf man doch.
Efeu gefällt mir nicht, er ist zu anhänglich, hat die ganze Mauer am Gartenhaus spröde gemacht. Jedenfalls hat mein Mann das gesagt, damals, als er noch lebte. Ich selbst habe seine Feststellung nicht überprüft. Ich verstehe nichts von Bauwirtschaft. Das war sein Bereich. Aber die Thuja-Hecke habe ich geliebt.
Lieber erzähle ich von Faltsternen, die ich zu Weihnachten ans Fenster hänge. Tote haben keine Scheiben, und ich will nicht über Gräber reden, auch nicht hier im Heim. Wozu soll das gut sein? Bei harmlosen Themen fühle ich mich wohler; dann bin ich mir sicher, dass niemand etwas im Schilde führt.

Obwohl: Ganz sicher bin ich mir nicht. Als mir Frau Maas gestern das Essen brachte, hat sie gesagt, sie schickt mir jemanden. Wofür, wollte ich wissen.
„Für den Staub.“
„Aber das macht doch schon die Putzfrau.“
Natürlich, ich hatte mich verhört, es ging um meinen Bauch, der seit Längerem Probleme macht, aber die Sprache ist mir schneller herausgerutscht, als ich nachdenken konnte. Das passiert manchmal. Das kommt davon, wenn niemand mehr zuhören will.
Jedenfalls ging ich zur Fensterbank und suchte die Geranien nach Schmutz ab. Vielleicht auch nach Insekten, einem Stück Leben, weil mich das beruhigt, aber das behielt ich lieber für mich. Ich konnte nichts finden, und ich erklärte, dass ich keine Hilfe brauche. Frau Maas lächelte schief.
Alles hat seine Ordnung. Das sagte ich, und es stimmt ja auch. Nur der Tag, der angebrochene – der stört mich immer noch.

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