Rockit
Rockit
von Florian Wessels
Die LP seiner Jugend leierte auf unentrinnbarer Spiralspur einen Titel vom Spätsommer 83 herunter, rauschend, knisternd und knackend wie ein Brand. An dem damaligen Morgen verspürte Thomas fast nichts von diesem Feuer. Wieder einmal brachte er es in seinem Kopfkino zu keiner einzigen gestandenen Nacktszene, um sich im Bett einen runterzuholen.
Schwüle Fantasien ließen sich auf halbherzige Order genauso wenig hochfahren wie sein reifendes Geschlecht. Ihn lähmte dieser immergleiche schulfreie Samstagmorgen, das ganze Haus schien wie narkotisiert. Ein plötzlicher Schlafdrang befiel jedes Wochenende die gesamte Familie – alle außer Thomas. Beklemmend war ihm dieser komatöse Stillstand, als hätte man ihn lebendig begraben, zermürbend die Gewissheit, dass seine Mutter frühestens um halb 11 von den Toten auferstehen würde.
Erst nach und nach, in konspirativen Schüben, würden sich dann die beiden anderen Zombies erheben. Die vertraute Wut flammte einmal mehr in ihm hoch auf alle, die sich so lange, so bequem saturiert wegstehlen konnten. Nicht dass er ihre Zuwendung und Nähe suchte. Ganz sicher nicht. Aber gerade in solchen vom Alltagstrott noch gänzlich unberührten öden Momenten stülpte sich seine ungeschriebene Zukunft in ihrer gesichtslosen Anspruchslast als riesige Hohlform über ihn.
Eine gelungene Masturbation hätte ihn wahrscheinlich wieder milder gestimmt, aus dieser drückenden Leere befreit und kurzzeitig in den süßen Schlaf gezogen. So jedoch war er noch aufgekratzer als zuvor und konnte nur aus dem Bett flüchten, um nicht gänzlich zu zerknirschen. Missgelaunt streifte er sich Jogginghose und Sweatshirt über, schlüpfte in seine Schlappen, schlakste die kurze Treppe ins Erdgeschoss hinunter und sackte in den Hobbykeller.
Bis vor wenigen Wochen noch hatte er sich dort unten in seiner Nische jeden freien Samstagmorgen vor seine Stereoanlage hingefläzt, um mit einem Finger auf der Record-Taste auf den fetzigen Peter-Gunn-Riff hinzufiebern, der um 5 nach 9 die Hitparade auf NDR 1 Radio Niedersachsen zündete. Seit den letzten Formel Eins-Sendungen waren jedoch die Top 20 samt Neueinsteiger völlig verblasst.
Verdrängt wurden sie alle mit einem Schlag von Herbie Hancocks Rockit, den aufreibenden Wiggy Wiggys von Grand Mixer DXT und den epileptischen Puppen aus dem verstörenden Musikclip. Die spastisch zuckende Gipsfigur unter der auf- und abbebenden Bettdecke verpoppte mit befreiender Offenheit Thomas‘ tägliche Handexpeditionen. Der stockatmende Beat, das wirre Bilderstakkato und die shakigen Zuckungen der somnabulen Wesen waberten tief in seinem Schädel. Das quietschige Scratchen hatte etwas Verkrustetes in ihm losgerissen und vibrierte subkutan nach.
Sein älterer Bruder hatte ihm einmal nachhaltig eingebläut, was es mit diesem grandiosen Scratching auf sich hatte: „Idiot, du musst halt die Platte mit deinen Dreckspfoten hin- und herbewegen, aber dazu bist du ja bekanntlich zu blöd. Ich weiß schon, was du so im Bett treibst, du Sau! Soll ichs Mama erzählen, hä?!“
Dabei schüttelte er mit breitem Grinsen unmissverständlich eine steif gekrümmte Handfläche vor seinem Schoß vor und zurück, ehe er zur weiteren Belehrung Thomas‘ Kopf als Turntable missbrauchte und ihm zum Schluss noch eine äußerst schmerzhafte Kopfnuss verpasste.
Hier im Keller versuchte er sich von nun an selbst als DJ am eigenen Plattenteller, ebenso an diesem Samstagmorgen, wenn auch in stark improvisierter Form. Mit nach hinten gedrehtem Cap stand er breitbeinig vor seiner Kompaktanlage, legte behänd einige seiner Singles und LPs auf und scratchte sie mit zwei Fingern an den markanten Stellen, während im Hintergrund ein poppiger Titel aus seinem Ghettoblaster schepperte.
Die meisten seiner Platten hatte er mangels ausreichendem Taschengeld aus den Schrottcontainern des Polydor-Werks gefischt, das ganz in der Nähe seine Pressen stehen hatte. Fast immer fand er zwischen all dem zerbrochenen Vinyl und den leeren Hüllen einige noch recht gut erhaltene Schallplatten, die allerdings alle ausnahmslos zur Mitte hin eingefräst waren, sodass stets nur die letzten, seltener auch die vorletzten Titel abspielbar blieben.
Er wusste selbst nicht so genau, warum er sich auch immer wieder einige grässliche Schlager-LPs herauszog. Mitunter angelte er sogar Schnulzen, die auch seine Eltern im Hifi-Schrank stehen hatten. Auf der „Goldenen Stimme aus Prag“, auf Roy Black und dem James-Last-Gedudel ließ sich mitunter herrlich scratchen, und er genoss eine unverhohlene sadistische Freude am Durchnudeln, Verzerren und Zerstückeln ihrer schmachtenden Gesänge und seichten Melodieschleifen.
Und überhaupt bestimmte von jetzt an er allein hier unten im Partykeller Rhythmus, Groove und Voice. Nichts blieb so, wie es ihm die rotierende Plattenrille scheinbar vorgab. Intonationen, Beats und Arrangements gehorchten nunmehr seinem flinken Fingerzeig. Vielleicht würde er irgendwann einige Polydor-Scheiben seiner Eltern gegen die angesägten Zwillinge austauschen, um auch die unversehrten zu verscratchen.
Nach einigen Sessions rief ihm seine Mutter zum Frühstück hoch. Morgenmuffeliges Schweigen aß mit am Tisch und häufte seine Teller. Flaues allgemeines Behagen breitete sich kurzzeitig über Brot und Aufschnitt, als man den Nachbarn und Vermieter nachäffte und sich über „die Schwulen-Seuche“ Aids mokierte.
Thomas zerhackte lieber mit seinem inneren Mischpult ihre Stimmen und scratchte auf ihren hämischen Akzenten. Gehässige Worte fügten sich zu einem groovigen Tirili zusammen. Die ohnehin flachen Bedeutungen zerschmolzen zu knetbarer Klangmasse. Doch dann brachen plötzlich Vaters Befehle in den Beat. Thomas würde ihm doch heute sicher bei der Gartenarbeit helfen, oder? Erstmal Rasen mähen, was mein Junge? Und danach könnten sie gemeinsam Mehlknödel rollen, nicht wahr?
Mutter linste Thomas flehend aus den Augenwinkeln an. Er nickte steif und zerkaute wild seine Stulle. Wer wollte auch schon das heilige Wochenende hintertreiben.
So trottete er also bald nach dem Frühstück grimmig durch die Waschküche in den weitläufigen Hintergarten. Der Rasenmäher stand bereits in Habachtstellung. Mehrmals zog er am Starterseil, doch das Gerät stotterte bloß kurz auf und schwitzte Benzin. Nach etlichen Versuchen knatterte es endlich laut los, und der Krieg begann.
Vater stand amüsiert auf der Terrasse. Er wisse ja Bescheid: Hier vorn am Rand müsse er anfangen, in gerader Bahn zuerst ganz nach hinten durchmähen und dann möglichst sauber wenden. – Thomas kannte jede einzelne Silbe, hätte jeden Akzent mitintonieren und verfluchen können. – Jede Bahn müsse er sorgfältig an die andere setzen, damit keine hässlichen Streifen an ungemähtem Gras stehen bleiben.
Thomas fuhr in die Einlaufrille und zog seine erste Bahn. Ein öder lärmender Titel brach los. Es knisterte und röhrte. Er steuerte bis zur stinkenden Brennesseljauche-Grube ins hinterste Garteneck, an die immerschattigen, feuchten, kaum begrasten Stellen heran, wo Mückenwolken träge tanzten.
Er wendete hart, zog dicht vorbei am alten Autoreifen, der als Schaukel früherer Kinderjahre am Birnast baumelte. Es gab ein sattes Knacken, wenn kleine Zweige unter das Messer kamen. Manchmal würgte er das Monster beinahe ab. Doch es fing sich wieder, die Schneide löste sich und brüllte befreit auf. Thomas schluckte zerfressene Matschbirnen und faulige Pflaumen.
Seitlich in den Beeten rupfte Vater an den Tomatenstauden herum, reißend, schwitzend, summend wie eine Hummel. Die etlichen Obstbäume zerrten an den Nerven. Mehrmals musste er um sie herummähen, musste womöglich später all das Gras wegschnippeln, welches noch an den Stämmen hochwucherte. Tränen der Wut verflimmerten den Garten.
Er fuhr weiter direkt über das Fallobst, der Mäher zerraspelte das weiche Fruchtfleisch und spuckte die Matsche seitlich aus. Wild fuhr er in die Brennesseln. Höllisch gern hätte er jetzt auch einen Igel oder Maulwurf überfahren. Teer wollte er übers Gras kippen, den ganzen Garten asphaltieren. Ein Gedanke blitzte in ihm auf, in Nachbars Garten zu entkommen, einfach mit einem Sprung über den niedrigen Holzzaun die Platte zu wechseln, raus aus der Rille in die weite Abdrift.
Das Mähen nahm kein Ende. Die Wendebewegungen wurden immer träger und mühsamer, die Rpm geringer. Der Rotorenlärm hatte ihn längst betäubt. Irgendwann nahm Vater ihn zur Seite und klopfte ihm auf die Schulter. Sein stoppeliges Gesicht troff vor Schweiß, das Brusthaar kräuselte sich feucht über seinem befleckten Unterhemd.
„So, mein Jung, jetzt haben wir uns eine richtige Männerpause verdient, was? Schau!“
Er schraubte Thomas den Kopf zurück in Richtung Rasen. Die flachgemähte Hälfte stach deutlich neben der anderen ab. Das Schnittgras zog feine Streifen über das glatte Grün.
„Wenn du fertig bist“, sagte Vater und hob seine Bierflasche an die nassen Lippen, „müsste man natürlich noch das Gras zusammenharken und auf den Komposthaufen werfen. Und dann“, rülpste er aus, „dann, mein Jung, gehts ran an die Mehlknödel, was? Die haben wir uns mächtig verdient. Und immer schön auf der Spur bleiben, mein Jung.“
Es bleibt zu erwähnen, dass sich sofort nach der kurzen Pause die Disziplin des Jungen verlor. Unwillkürlich stahl sich ein Wiggy Wiggy nach dem anderen in seine Bewegung, allzu grob zuckte er den Rasenmäher in die Ecke und schleuderte ihn auf die nächste Spur. Querschläger blitzten über den ungemähten Rasenstreifen, denn Grand Mixer DXThomas legte heute auf.
Der langbeinige Frauenunterleib im Spitzenslip aus Hancocks Videoclip lustwandelte elegant über den duftend grünen Dancefloor und stakste über die Beete. Thomas folgte ihr. Petersilie, Rosen, Stiefmütterchen und Dill gaben unter dem Mäher tatsächlich einen fetten Sound ab.
Rockit!
Er juchzte scratchend auf und blickte dabei wie zufällig zur Terrassentür. Hinter dem Glas stand die Mutter, eine Hand versteinert an den Mund gehoben, die andere am Saum der Küchenschürze zupfend. Sie kam ihm plötzlich so alt vor.
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