Titel Ruhrgebietsliteratur seit 1960

Ruhrgebietsliteratur – Einspruch! Im Gespräch mit Rolf Parr

von Oliver Bruskolini

Anlässlich seiner neuen Publikation Ruhrgebietsliteratur seit 1960. Eine Geschichte nach Knotenpunkten hat sich Prof. Dr. Rolf Parr (Professur für Germanistik – Literatur und Medienwissenschaft an der Universität Duisburg-Essen) unserem Fragenkatalog gestellt. Dabei haben sich interessante Einblicke in die Literaturgeschichte des Ruhrgebiets, die Wahrnehmung der Ruhrgebietsliteratur und aktuelle wie wünschenswerte Entwicklungen in der regionalen Literaturszene ergeben.

©Universität Duisburg-Essen

Danke, dass Sie sich die Zeit nehmen, um mit uns über Ihr neues Buch Ruhrgebietsliteratur seit 1960. Eine Geschichte nach Knotenpunkten zu sprechen. Als Literaturfeuilleton, das seine Fühler von Metzingen bis tief ins Ruhrgebiet ausstreckt, klingt das Werk äußerst interessant für uns. Vielleicht könnten Sie unseren Lesern kurz erläutern, was genau Sie als Ruhrgebietsliteratur klassifizieren?

Bei allen adressatenspezifischen Literaturen, sei es Arbeiter-, Frauen- oder eben auch Ruhrgebietsliteratur, hat man es mit der Frage aus, über oder für zu tun: Also in unserem Falle: Literatur aus dem Ruhrgebiet? Literatur über das Ruhrgebiet? Oder Literatur für das Ruhrgebiet. Im ersten Falle würden wichtige Autorinnen und Autoren wie Brigitte Kronauer, die in Hamburg gelebt hat, oder Ralf Rothmann, der in Berlin lebt, herausfallen; mit dem Kriterium über wären sie aber zu berücksichtigen. Unsere Lösung dieser Problematik war, aufzunehmen, was für die Kommunikation über die Literatur im Ruhrgebiet relevant ist und was im Ruhrgebiet Wirkung gezeigt hat.

Die Literaturgeschichte des Ruhrgebiets, die Sie mit Ihren Co-AutorInnen erarbeitet haben, ist nach Knotenpunkten organsiert. Was heißt das, und warum haben Sie das so gemacht?

Wer eine Literaturgeschichte schreibt, der hat es immer mit Fragen der Anordnung der vielfältigen Informationen zu tun. Die einfachste Form ist ein A-Z der Autorinnen und Autoren, aber auch die langweiligste und am wenigstens aussagekräftige, wenn man historische Entwicklungen aufzeigen will. Das andere Extrem sind große Erzählungen vom Aufstieg und Fall von Stilen, Schreibweisen und den dazugehörigen Autorinnen und Autoren mit Höhepunkten und nachfolgenden Tälern oder – noch schlimmer – Geschichte von kontinuierlichem Fortschritt. – Genau diese Fehler wollten wir dadurch vermeiden, dass wir mit den Knotenpunkten von etwa 20 bis 50 Seiten Länge solche Konstellationen in den Blick genommen haben, in denen sich literarisch etwas verdichtet hat, evtl. mit Anschlüssen an andere Lebensbereiche, und von denen aus bisweilen auch Impulse über das Ruhrgebiet hinausgegangen sind. So gibt es beispielsweise einen Knotenpunkt zum Kriminalroman, da einer der ersten – wenn nicht sogar der erste – regionale Krimi aus dem Ruhrgebiet stammt, nämlich Jürgen Lodemanns „Anita Drögemöller und Die Ruhe an der Ruhr“ aus dem Jahr 1975. Heute ist der regionale Krimi ein nicht nur deutschsprachiges Erfolgsgenre geworden, auch im Fernsehen, weshalb wir zu den Lese-Tatorten auch gleich einen korrespondierenden Knotenpunkt zu den TV-Tatorten gemacht haben.

Um in die Materie einzutauchen, mussten Sie sicher zahlreiche Werke sichten. Welches oder welche davon haben es Ihnen persönlich nachhaltig angetan?

Die Frage nach dem „angetan“ kann ich beantworten; die nach der „Nachhaltigkeit“ müssten Sie mir in zehn Jahren noch einmal stellen. Aber: Wirkung hinterlassen haben Texte, die wir aus den Augen verloren hatten und für uns wiederentdeckt oder auch ganz neu entdeckt haben. Dazu gehörte bei mir etwa Wolfgang Körners zuerst 1969 erschienener Roman „Nowack“, der von einem Fotografen handelt, der durchs Ruhrgebiet läuft und etwa bei Demonstrationen gegen Zechenschließungen fotografiert. Wichtig an diesem Text sind aber die Versuche, ‚Sprechblasen‘ zu entlarven und Macht überall dort zu unterlaufen, wo sie auch eine sprachliche Seite hat. Das beginnt damit, das Schnipsel von Werbesprache in Radio und Fernsehen in langen Reihungen hintereinanderweg präsentiert werden, so als wären sie ausgeschnitten worden, und endet damit, dass Polizisten als „Uniformen“ bezeichnet werden und es dann beispielsweise heißt, dass eine Uniform in Uniform hereinkäme. – Aber auch über Körner hinaus gab es sehr viele Texte, die uns besonders fasziniert haben. Da hat jeder von uns vier Verfasserinnen und Verfassern so seine Lieblinge.

Was würden Sie nach Ihrer Forschung als „typisch Ruhrgebietsliteratur“ bezeichnen? Gibt es feste Merkmale oder zentrale Motive, die sich durch die letzten sechzig Jahre ziehen?

Sicher gibt es motivische rote Fäden und auch Schreibweisen, die sich über längere Zeiträume hinweg verfolgen lassen. Denn mit neuen Entwicklungen im literarischen Schreiben hören die schon vorhandenen Schreibweisen und ästhetischen Konzepte ja nicht schlagartig auf, sondern laufen weiter. Da aber das Etikett „typisch Ruhrgebiet“ drauf zu pappen, da zögere ich doch. Wenn es eine Spezifik gibt, dann liegt die eher auf der Ebene derjenigen Motive, die andernorts so wie hier nicht zu finden sind. – Vorsicht ist gerade auch da geboten, wo literarische Texte sich selbst als in besonderer Weise typisch für das Ruhrgebiet annoncieren. Ich denke etwa an Frank Goosens Band „Radio Heimat“ oder seinen Roman „Sommerfest“; beide im weiteren Kontext des Kulturhauptstadtjahres 2010 zu verorten. Darin wird so viel an Ruhrgebietsmarkern aufgefahren (vom Reihenhaus, in dem schon drei Generationen an Bergleuten gewohnt haben, dem Bolzplatz, dem Schrebergarten und – nicht zu vergessen – der Trinkhalle, der „Bude“), dass es schon wieder ironisch umkippen kann.

Wenn Sie die Entwicklung der Literatur im Ruhrgebiet betrachten, was ist für Sie auffällig? Wie grenzen sich die verschiedenen Strömungen voneinander ab? Wohin geht der Trend?

Gott sei Dank gibt es keinen vereinheitlichenden Trend, sondern eine breite Vielfalt in der Ruhrgebietsliteratur, wobei die einzelnen Richtungen sich eher weniger programmatisch voneinander absetzen. Man kann eher das Gegenteil beobachten, dass sich die Literaturszene Ruhr aktuell neu organisiert, aber eben in ihrer Vielfalt. – Wollte man dennoch so etwas wie einen Trend der letzten Jahre ausmachen, dann liegt der vielleicht in einer Literatur, die Bezüge zur Popmusik und den aktuellen Musikkulturen herstellt, wie es etwas bei Jörg Albrecht, Marcel Maas und Marc Degens zu beobachten ist.

Im Ruhrgebiet wird spätestens seit dem Kulturhauptstadtjahr einiges unternommen, um die Wahrnehmung der Kunst und somit auch der Literatur in der „Arbeitermetropole“ zu verstärken. Die Lit.Ruhr ist sicherlich die größte Institution, das Netzwerk Literaturgebiet.Ruhr eines der jüngsten Projekte, das diesen Zweck verfolgt. Ist ein Aufschwung bis zu Messen wie in Leipzig oder Frankfurt vorstellbar? Wäre es wünschenswert? Oder ist es wahrscheinlicher, dass das Ruhrgebiet ein Teil der deutschen Literaturperipherie bleibt?

Einspruch! Es wäre für die Zeit ab 1960 zu jedem Zeitpunkt falsch gewesen, die Ruhrgebietsliteratur (in der Breite wie wir den Begriff verstehen) auf Arbeiter- oder noch spezieller Bergarbeiterliteratur einzuschränken. Auf den Buchmessen ist diese Literatur bereits bestens präsent und ob wir eine Buchmesse im Ruhrgebiet wirklich brauchen, ob das sinnvoll ist, das lasse ich einmal dahingestellt. Das bedeutet aber eben nicht zugleich ‚Literaturperipherie‘, was wir mit unserem Buch vielfach zeigen konnten. Und was die literarischen Institutionen wie „Lit.Ruhr“ und „Literaturgebiet.Ruhr“ angeht, so decken beide jeweils ganz verschiedene Funktionen ab. Die „Lit.Ruhr“ findet im Ruhrgebiet statt, ist aber – was etwa die lesenden Autorinnen und Autoren sowie die Diskussionsthemen angeht – zum größten Teil überregional ausgerichtet. Was sie dennoch leistet, das ist auf Literatur aufmerksam zu machen, für Literatur zu werben. Das ist dann wiederum auch für die Ruhrgebietsliteratur, ihre Autorinnen und Autoren nicht ganz unwichtig, auch wenn man manchmal etwas neidisch auf die Gelder schielt, die bei der „Lit.Ruhr“ verausgabt werden. Demgegenüber nimmt „Literaturgebiet.Ruhr“ als Netzwerk dankenswerterweise die Aufgabe wahr, den Literaturbetrieb Ruhr in der Öffentlichkeit sichtbar zu machen. Zwischen beiden würde ich mir ein „Literaturhaus Ruhr“ wünschen, als institutionalisiertem Ort der Begegnung mit Literatur und eben gerade auch derjenigen aus dem Ruhrgebiet.

Wenn Sie der Ruhrgebietsliteraturszene (Autoren, Verlegern, Veranstaltern, etc.) etwas mit auf den Weg geben oder sich etwas wünschen könnten, dann wäre das …?

Wünschen würde ich mir ein „Literaturhaus Ruhr“, einen institutionalisierten, in der Öffentlichkeit bekannten Ort der Begegnung mit Literatur, gerade auch mit derjenigen aus dem Ruhrgebiet. Das wäre keine Konkurrenz zu den Literaturbüros, sondern deren konsequente Fortführung.

©J.B. Metzler

 

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