Schatzsuche
von Uta Jürgens
Sonntags, früh morgens um halb sechs, ist die beste Zeit. Die gesetzten älteren Mitbürger schlafen noch, die jungen wilden schon. Nein, es ist nicht schön, mich aus dem warmen Bett zu schälen – aber zu einem Raubzug, wie ich sie plane, gehört ein gebührend kühner Einsatz.
Mein Komplize gähnt mit drachenhaft geöffnetem Maul und kämpft sich aus der Mulde, die er sich gewühlt hat. Er schüttelt mit schlackernden Ohren die Müdigkeit ab und den Bart zurecht, wedelt mit dem Schwanz und ist bereit. Ich wasche mich notdürftig und putze Zähne: So viel Gutbürgerlichkeit bin ich meiner Selbstachtung schuldig, und, wenn ich geschnappt werde, will ich wenigstens nicht wie der Penner riechen, mit dem man mich verwechseln können wird. Ich schlüpfe in den viel zu weiten bodenlangen, gruselig siebzigerhaft anmutenden Mantel, den meine Oma einmal mit viel Hoffnung, aber wenig Erfolgserwartung und einem: „Vielleicht ist das was für dich…?“ aus dem Schrank zog – und den sie mir mit so ungläubigem wie überglücklichem Blick überließ, als ich sagte: „Ja!“.
Wenn die wüsste …
Der zweite Komplize steht im Flur bereit: Ein grüner Handwagen namens „Rolli“, den ich zur Tarnung mit einem großen grauen Plastiksack umhüllt habe. Räubermütze auf, Handschuhe an – und los geht es.
Kein Fenster ist erleuchtet, keine Ahnung des Morgengrauens liegt über den Dächern, kein fragender Blick lauert hinter den Gardinen. Ein friedvoller Sonntagmorgen im Februar. Und wir. Mein schwarzbepelzter Begleiter hat die Mission nicht so ganz verstanden und geht mit Hingabe der selbstgewählten Berufung nach, sämtliche Gerüche gewissenhaft einzusaugen, irgendwo zwischen feuchter Nasenspitze und Kleinhirn zwischen zu speichern, um sie dann später beim Vormittagsschläfchen zu kategorisieren und in seine Schnüffelwelt einzusortieren.
Wir huschen durch die Straßen und Gässchen – ich halte mich an die kleinen, engen, dunklen –, verweilen dann und wann zum schnellen Schnüffeln und Beinheben, und mein Herzschlag nimmt Fahrt auf. Hoffentlich gelingt es auch dieses Mal.
Wir müssen die Fußgängerzone queren. Sie ist verlassen, bis auf die Gestalt, die ich den Sammler nenne. Er ist im Grau der Nacht und der Schatten der Häuserzeilen kaum auszumachen, aber ich kenne gut, wie er sich über die Eimer beugt, darin wühlt und, wenn er Glück hat, eine Flasche herauszieht. Zu Anfang dachte ich, er suche Pfandflaschen. Aber das tut er nicht. Er sammelt Alkoholreste. Er führt eine Plastikflasche mit sich, und, wenn er Bierdosen, Weintüten oder Schnapsfläschchen findet, schraubt er sie auf und gießt die darin verbleibenden Tropfen in seine Flasche. Ich wage kaum, mir vorzustellen, wie das scheußliche Gemisch schmeckt, aber das bemerkt er wahrscheinlich nicht, wenn nur der gütige Pegel in seinem Blut steigt und er Linderung von der Schwere des Lebens erfährt. Wir begegnen ihm fast jeden Sonntagmorgen; auch er weiß um die Gunst der frühen Stunde, ungesehen zu tun, was nicht gesehen werden soll. Ich habe schon oft versucht, seinen Blick zu fangen und ihn zu grüßen. Unmöglich. Er schaut nie auf.
Für ihn ist seine Ausbeute dank der feuchtfröhlichen Feiern der Samstagnächte am darauffolgenden Morgen besonders hoch. Und für mich die meine, denn sonntags sind die Geschäfte geschlossen, Montag kommt neue Ware. Am Samstagabend sammeln sich die Lebensmittel in den Kübeln, und am Sonntagmorgen komme ich. Jetzt bin ich bin fast da.
Ein schneller Blick noch, ob mich auch niemand in den Hinterhof einbiegen sieht – keiner da. Ich ziehe den Schal vors Gesicht und steuere auf die hintere Ecke des Hofes zu, zu den Mülltonnen und den Schätzen, die sie bergen. Eine ganze Reihe ist es. Drei große braune Bioabfall-Kübel und zwei schwarze Restmüll-Tonnen. Zuerst der Restmüll – hierin liegen oft die schweren Teile, sie müssen zuunterst in den Rollwagen. Zack, Handschuhe aus, klapp, den Deckel auf. Mein schwarzer Schatten von einem Hund setzt sich und schaut aufmerksam zur Straße hin, schmiegt sich an mein Bein. Und ich greife in den Schlund der Tonne. Sie ist halb gefüllt mit verknoteten Säcken, und, ja, meine inzwischen erfahrene Hand ertastet in dem obersten hart konturierte Inhalte: Getränkekartons, Packungen von Wurst oder Käse, und etwas, das ich nicht erkenne. Ich ziehe an dem Plastik – der Sack ist schwer und rührt sich kaum: Das bedeutet, dass er zum weit überwiegenden Teil mit Verwertbarem gefüllt ist. Es lohnt, ihn im Ganzen mitzunehmen. Ich wuchte ihn heraus und in mein Wägelchen. Der nächste Sack tastet sich weich und undeutlich – sehr sicher nichts Wertvolles. Der dritte Sack liegt zu tief in der Tonne, ich müsste mich hineinbeugen – das ist mir zu riskant. Klapp, Deckel zu. Die nächste Tonne ist dran. Kehricht liegt zu oberst. Unschön. Hier muss ich mich durchwühlen, und dann belohnt mich eine verknotete durchsichtige Tüte mit Backwaren. Wunderbar! Ich ziehe sie heraus, staube sie ab, hülle sie in eine mitgebrachte Plastiktüte und versenke sie in den Tiefen meines Rollis. Blick zurück in die gähnende Schwärze der Tonne, die von dem zu schräg einfallenden Licht der Straßenlaternen kaum ergründet wird. Aber ist das nicht… Ich greife zu. Schrecke zurück. Meine kalten Hände sind auf etwas Spitzes gestoßen. Mensch, was für ein Glück ich hatte: Über dem, was ich als drei Packungen gemischtes Mett erkenne, liegen die Scherben einer Flasche geschichtet. Aber der Schatz darunter ist einfach zu groß, als dass ich nicht… ganz ganz vorsichtig. Die erste Packung ist geborgen. Mein Hund wittert, hat es schon gerochen. Ja, mein Freund, das ist für dich. Die zweite Packung ist in Reichweite. Mit einem Knistern lasse ich sie in eine meiner Tüten fallen. Die dritte Packung …
Da ertönen Schritte von Hackenschuhen auf Asphalt. In all dem Geknistere habe ich es nicht bemerkt… Ich wende mich von der Straße ab, sehe aus dem Augenwinkel zwei ineinander gehakte Gestalten die Straße entlangkommen. Ich höre Stimmen, Kichern – und ein Stocken, als sie mich erblicken. Dann ein unterdrücktes Losprusten: Da wühlt ja einer im Müll! Schnell gehen sie weiter. Puh, alles gut. Aber meinen Puls hat es in die Höhe getrieben. Ja, es ist verboten, Zeug aus fremden Mülleimern zu holen. Auch, wenn es sich dabei um wertvolle Bio-Lebensmittel handelt, die – oftmals noch nicht einmal abgelaufen – noch zum Großteil genießbar sind. Und auch, wenn ich davon überzeugt bin, dass das eigentliche Verbrechen darin besteht, dass ein Bio-Supermarkt seine Schätze wöchentlich zentnerweise fortwirft.
Ich habe die dritte Packung Met erwischt und traue mich ob der Scherben und meines klopfenden Herzens nicht, weiter in die Tiefen der schwarzen Tonne vorzustoßen. Und ich habe jetzt schon genug; die Bio-Tonnen sind ja auch noch dran. Aus der ersten, die ich aufklappe, schlägt mir jener so wohlbekannte süßlich-satte Geruch nach einer Mischung aus Kaffeeresten, gärendem Obst und dem Saft zerdrückter Tomaten entgegen, nach dem bald auch meine Finger riechen werden. Das gehört dazu. Nur mit nackten Händen kann ich lecker von verdorben unterscheiden. Und man lernt, diesen Geruch zu mögen und mit Würde zu tragen. Ich wühle einige Salatblätter zur Seite und dann sehe ich sie: vier mittelgroße Hokkaido-Kürbisse.
Wahnsinn! Vollkommen intakt, aber die Schale ist mit kleinen Krusten bedeckt: Hagelschäden. Was man mit drei, vier Messerschnitten entfernen kann, macht Gemüse unverkäuflich. Ich sacke den Fund ein und zücke eine weitere Plastiktüte aus meinem Vorrat: Ich habe Äpfel gefunden. Was für ein Fest! Ich greife in die Fülle, zweimal, dreimal, fünfmal… dann fallen mir Kartoffeln in die Hände: Die kommen gleich dazu. Sortieren kann ich später. Dann wühlen… igitt, das war eine faule Aubergine. Wühlen… mehr einzelne Salatblätter, fauler Kram, je tiefer ich komme, hier und da noch eine Kartoffel… nein, ich glaube, hier ist nur noch Mist. Klapp, die nächste Tonne. Ich muss mich eilen. So ergiebig der Raubzug bisher war, so lange hat er gedauert. Und die Furcht, gesehen zu werden, steigt mit jeder Minute.
Noch mehr Salat, sogar ein paar ganze Köpfe, aber auch ganz viel feuchtes Kaffeepulver, das sich in den Blättern fängt und unter die Fingernägel setzt. Dazwischen einzelne Schmuckstücke: drei Zucchini, Pilze, eine angedetschte Birne und… eine Packung Bambussprossen in Plastikverpackung. Ja, so sorge ich sogar für eine vernünftige Mülltrennung – ob mir die Geschäftsleitung das danken würde?
Plötzlich biegt ein Auto auf den Hinterhof ein. Die Angst packt mich im Genick, mein Hund springt auf. Der Wagen setzt vor, zurück, die Fahrer schauen so erschreckt wie ich – dann ist das Wendemanöver vollendet, und die
Unbekannten fahren von dannen.
Jetzt ist aber gut, mein Mut ist aufgezehrt. Ich klappe die zweite Tonne zu, linse in die dritte – sie ist leer, Gott sei Dank.
Und dann ziehen wir ab, mit einem übergewichtigen Rolli, einem überglücklichen Hund, der endlich wieder schnüffeln darf und weiß, welch Festschmaus ihn zuhause erwartet, und Vorfreude auf das Sichten meiner Beute. Innerhalb eines Hundert-Meter-Radius vom Tatort fühle ich mich noch wie eine Diebin. Jenseits dessen mit jedem Schritt mehr wie eine Heldin. Der Morgen graut. Ja, es macht Spaß.
Zuhause singe ich beim Sortieren. Heute hat es lange gedauert – aber ich werde fürstlich entschädigt: mit der Gemüse-, Obst- und Brotladung für gut eine Woche und die Restmülltüte offenbart fünf Tüten knapp überfällige Haselnussmilch, drei Päckchen Datteln und zwei Packungen Rindersalami für meinen treuen Spießgesellen. Der lungert mich in schönstem „Sitz“ an und wartet, seinen gebührenden Teil der Beute zu verschlingen.
Ein üblicher Sonntagmorgen, ein ganz normaler Bio-Supermarkt, ein bisschen Wagemut – das ergibt: eine Promotionsstudentin, die samt Hund ungeachtet des Fehlens eines geregelten Einkommens gar gediegen speist – und der Wunsch, dass, wer meint, wir hätten nicht genug Ressourcen, um jedermann auf dieser Welt ein erträgliches Leben zu ermöglichen, einmal in seinem Leben am Sonntagmorgen containern gehen möge.