Sie werden ihn finden
Er hat genaue Anweisungen bekommen. Die Zeit läuft. Der Druck wird größer. Immer wieder muss er diese Aufträge erfüllen. Wenn er es bis heute Abend nicht erledigt hat, werden sie kommen.
Sie kommen nicht sofort. Nein. Aber so in drei oder in vier Wochen. Vielleicht auch erst in einem halben Jahr. Das ist egal. Sie werden ihn finden, und er wird es büßen müssen. Schmerzhaft. Das weiß er.
Sein Vater wollte, dass er in Tübingen studiert. Geisteswissenschaften. „Bua, du sollschs mal besser hann wie mir“. Nach zwei Semestern hat er geschmissen. Er brauchte etwas zum Anpacken. Zum Schaffa halt.
Viel lieber würde er jetzt in der Dämmerung an der Echaz spazieren gehen. Die Schwäne beobachten. Das Wasser leise ans Ufer schwappen hören.
Er hat noch nichts vorbereitet. Dabei ist es so wichtig, alles richtig zu machen. Ein Fehler, und er muss dafür bluten. Da diskutieren sie nicht lange mit ihm.
Von Tübingen hatte er die Nase voll und ist wieder nach Sondelfingen gezogen. Dort hat er beim Rinker eine Schreinerlehre gemacht. Hat als Innungsbester bestanden. Heute ist Mittwoch. Stammtisch im Adler. Andi und Markus, seine ehemaligen Kollegen, sitzen bestimmt schon am runden Tisch rechts neben der Theke. Das dritte Bier vor sich.
Er hat sich damals bewusst dafür entschieden. Er hätte sein Geld auch anders verdienen können. In seinem Lehrbetrieb bleiben. Bei Rinker wollten sie ihn unbedingt übernehmen. Aber nein. Er wollte sein eigenes Ding machen. Hat das große Geld gerochen. Er muss raus. Braucht Luft. Nur ein bisschen Aufschub. Er zieht seine schwarzen Halbschuhe an und schlüpft in die dunkle Jacke. Er fällt nicht auf. Verschwimmt in der Dämmerung. Aber auch das wird ihn nicht retten. Sie finden ihn überall. Rasch durch das Treppenhaus hinunter und raus. Die Luft ist kühl jetzt, Anfang Oktober. Er läuft Richtung Echaz. Warme Rauchwölkchen dampfen durch Mund und Nase in die frische Herbstluft. Seine Füße wirbeln das Laub hoch. Wie früher, als Schulbub. Jetzt ist er unten am Fluss. Ein paar Schwäne verharren bewegungslos an der Böschung. Das Wasser schwappt leise ans Ufer.
Er merkt, wie es ihm übel wird. Er ist verrückt. Was macht er eigentlich hier? Es gibt für ihn keinen Ausweg. Wenn er es nicht macht finden sie ihn. Sie haben ihren Sitz sogar in seiner Stadt. Die sind überall.
Er dreht abrupt um und rennt zurück nach Hause. Er muss seinen Auftrag erfüllen! Darf jetzt nichts mehr schleifen lassen. Die Zeit läuft. Er öffnet die Haustüre, geht in die Küche und macht sich einen Tee. Sowie er sich beruhigt hat wird er sich um alles kümmern. Aber er braucht einen klaren Kopf. Er trinkt die ganze Tasse in kleinen Schlucken leer.
Dann steht er langsam auf und geht hinüber an den Wohnzimmerschrank. Er öffnet die Schranktüre und nimmt den Schuhkarton heraus. Zurück am Küchentisch öffnet er den Karton und beginnt die Zettel zu sortieren. Morgen früh muss er die Umsatzsteuer im Finanzamt am Leonhardsplatz abgeben.
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