Nur noch kurz die Welt retten! – Starkes Debut mit ein paar Schwächen.
Rezension von Anke Blacha
Walther Stonet, UnFake IT, Ein Shirin Meisig Roman in drei Teilen, Frankfurt/Main, Mai 2022, VSS-Verlag, ISBN 9789403664583, 507 Seiten, Paperback, €19,95 (D – Buch)
Näher an den aktuellen Themen der Zeit ist derzeit wohl kaum ein Roman. Mit „UNFAKE IT“ spannt Walther Stonet auf 507 Seiten den Bogen von der Digitalisierung, dem Klimawandel über Menschenrechtsverletzungen in totalitären Staaten bis hin zur Corona-Pandemie. Diesen Herausforderungen stellt sich die Heldin des Romans Shirin Meisig – mal mehr, mal weniger freiwillig. Aufgeteilt in drei Kapiteln geht es vom Start („Die Tür“) über „Die Gier“ zum „Wir“.
Mit Ende zwanzig hat Shirin Meisig nicht nur sehr erfolgreich ihr Informatikstudium abgeschlossen, sondern bereits fünf Jahre in der IT-Branche gearbeitet und nebenbei gewinnbringend in Kryptowährung investiert, so dass sie sich mit einem eigenen IT-Start-up selbstständig machen kann. Der Weg führt sie von Leipzig in die schwäbische Einöde. Ein landwirtschaftliches Anwesen – mit Glasfaserverbindung und allen möglichen digitalen Extras aufgerüstet – wird die Zentrale des neuen IT-Imperiums Red Forest. Auslöser der Gründung war ein Dilemma, das viele digitale Entwicklungen begleitet: Die Technik kann sowohl im Guten als auch im Schlechten eingesetzt werden. Um einen missbräuchlichen Einsatz ihrer Software wieder gut zu machen entwickelt Shirin ein Protecting-Programm, mit dem Dank Deep Fake verfolgte Personen aus China fliehen können. Unterstützung bekommt sie dabei von insgesamt drei ehemaligen Kommilitoninnen und Freundinnen aus China, Japan und Leipzig. Shirin ist nicht nur die weltbeste und -schnellste Programmiererin und Weltretterin und hat ein Händchen für Kryptowährung, sondern sie sieht auch sehr gut aus (was sie aber gerne verbirgt), ist ein Sprachgenie (spricht fast besser Chinesisch als ihre chinesische Kommilitonin), findet im Schwabenland Freundinnen und den Partner fürs Leben – und das alles innerhalb eines Jahres.
Nach dem „Alles super“-Jahr, in dem selbst scheinbar unüberwindbare Hürden mit Leichtigkeit bewältigt werden und im Job sowie im Privatleben ein Erfolg auf den nächsten folgt, ereilen sie und ihre Partner*innen in „Die Gier“ einige Rückschläge und das auf allen Ebenen: Die Rettung der chinesischen Dissident*innen wird gefährlicher, es kommt zu vermehrten Hackerangriffen auf die Firma, es gibt interne Sabotagen sowie Vertrauensverluste und die Höfe von Shirin und ihren Schwiegereltern geraten aufgrund der Folgen des Klimawandels in wirtschaftliche Schieflage. Die Gier zeigt sich dabei in unterschiedlicher Gestalt. Die IT-Firma wächst rasant – zum Teil mit nicht ganz durchsichtigen Partnern aus Asien – durch ein Höher, Schneller, Weiter wächst zugleich die Zahl der Neider (neben Software-Entwicklung mischt das Team von Red Forest auch die Gaming-, Film- und Agrar-Branche kräftig auf). Gierig ist auch Shirins Freundin und ehemalige Kommilitonin Ida, die – größtenteils aus Sorge um ihre Familie – den Software-Code verkauft. So sieht sich die Heldin des Romans erstmals mit Herausforderungen konfrontiert, die sie zweifeln lassen und aus der Bahn werfen.
Nach Höhenflügen und Rückschlägen folgt im dritten Kapitel die Rückbesinnung aufs „Wir“. Das letzte Kapitel ist zugleich das aktuellste, in dem die Protagonist*innen mit dem Corona-Ausbruch, der massiven Unterdrückung der Hongkong-Chinesen und den Folgen der Trump-Administration konfrontiert werden. Es ist auch das Kapitel, in dem der Wandel Shirins von der erfolgreichen Nerd-Individualistin mit fast übermenschlichen Fähigkeiten zur vorsichtig agierenden Mutter und Ehefrau vollzogen ist. Neben der neuen Herausforderung Corona lösen sich in „Wir“ die noch offenen Punkte aus „Die Gier“, so dass zum Abschluss wieder Erfolge gefeiert werden können, wobei Ambivalenzen bleiben, für die auch das Heldinnen-Quartett (noch) keine Lösungen hat.
Warum ich das Buch kaufen würde:
Es fängt mit dem Titel an: UnFake IT ist nicht nur der Name eines der IT-Unternehmen in diesem Roman (ausgerechnet das, das für die Sabotage bei Red Forest zuständig ist), sondern kann mit „Unfake it!“ auch als Aufruf an alle Leser*innen gelesen werden, von perfekten, digitalen Scheinwelten Abschied zu nehmen, die vor allem bei Instagram oder TikTok die Realität verzerren. Es geht weiter mit den Themen des Buches: Aktuelle IT-Themen, wie Deep Fake, aktuelle gesellschaftspolitische Themen wie der Klimawandel, Gefährdung der demokratischen Werte und der sozialen Entwicklung während der Pandemie. Der Autor verpackt alle Themen – mal mehr, mal weniger präsent – in den Plot. Er stellt damit den Leser*innen die unausgesprochene Frage, wie jede*r von uns sich in diesen Situationen verhalten würde oder welche Themen unser Handeln leiten. Der schwäbische Dialekt ist für Norddeutsche nicht immer leicht zu verstehen, lockert die von technischen Fachbegriffen gespickten Dialoge der IT-Heldinnen jedoch sehr gut auf.
Warum ich das Buch nicht kaufen würde:
Der Roman wird der Fülle an Themen nicht immer gerecht. Die möglichen Herangehensweisen an Problemfelder und die eventuell daraus entstehenden (persönlichen) Konflikte werden meist nur kurz angesprochen und im nächsten Schritt ist das Problem auch schon gelöst – das betrifft sowohl die Flucht der chinesischen Dissidenten als auch die Hackerangriffe. Dafür verliert sich der Autor bei alltäglichen Handlungsabläufen in Einzelheiten: Spätestens nach dem fünften Mal haben die Leser*innen verstanden, dass der Alltag von Shirin nach der Geburt vom Stillen und Windelwechseln dominiert wird. Leider hat sich die starke Protagonistin im Laufe des Romans zu einer Frau entwickelt, die streckenweise auf ihre Mutter- und Ehefrauenrolle reduziert wird. Dabei ist sie diejenige, die ein weltweit agierendes, erfolgreiches IT-Hightech-Unternehmen managt – und nebenbei die Welt rettet. Ihr Mann schreibt „lediglich“ an seiner Habilitation und hätte sicher Zeit mehr Familien- und Haushaltsaufgaben zu übernehmen. Der Autor darf seinen Leser*innen zudem öfter zutrauen, dass sie ihre eigenen Schlüsse ziehen können: Während an einigen Stellen inhaltliche Leerstellen bleiben, wird der Plot bei offensichtlichen Handlungssträngen en detail erzählt.
Kaufen oder nicht? Fazit: Kaufen.
Der Roman hat seine inhaltlichen und stilistischen Schwächen. Doch der große Pluspunkt ist die Idee: Eine junge Leipzigerin ITlerin rettet gemeinsam mit einem internationalen Frauen-Trio von der schwäbischen Einöde aus die Welt und die Gesellschaft – versucht es zumindest. Und da es noch viel zu retten gibt, kann der Autor ja nach dem Debüt in einem zweiten Teil die Schwächen wieder gut machen.
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