Steine

Steine

von Sarah Amanda

Irgendwie kommt mir dieser Ort bekannt vor. Komisch, weil ich mich nicht wirklich daran erinnern kann, hier schon einmal gewesen zu sein. Wir gehen langsam an den vielen großen und kleinen Steinen hier entlang, behutsam, damit das gefallene Laub unter unseren Füßen nicht zu laut raschelt. Die Stille nicht durchbricht.

„Wo sind wir hier nur?“

Meine geflüsterte Frage bleibt unbeantwortet. Und was haben all die Steine zu bedeuten?
Diese zweite Frage wage ich gar nicht erst auszusprechen.

Stattdessen schlendere ich mit betonter Gelassenheit zu einem der Steine. Es sind so unglaublich viele, manche sind groß, manche klein, manche glatt, manche rund und eckig. Manche wirken bedrohlich. Aber dieser eine hat etwas sehr Freundliches.
Entzücken lese ich darauf.Und darunter, klein, in verspielt wirkenden Buchstaben in den Stein gemeißelt: Ich bin gerade vom Scheinen der Sonne aufgewacht, ein Samstagmorgen …

Ich schaudere leicht, als ich die Worte lese, warum kann ich mir nicht erklären. Klingt doch eigentlich ganz nett. Schnell trete ich etwas zurück und wende mich dem nächsten Stein zu. Einem großen in einem warmen Rosa-Orangeton, der geformt ist, wie ein kleiner Hügel.
Deine Liebe zu diesem Menschen steht darauf. Und darunter kann ich in gedrängter Schrift, tief in den Stein gegraben, lesen:
Idiot. Das war einmal.

Okay, okay …
So langsam ahne ich etwas.

„Du bist hier doch schon oft gewesen“, sagst Du. Pfff, typisch. Ja, meine Fragen dann beantworten, wenn ich sie lieber nicht stelle, aus gutem Grund nicht.

„Wenn Du träumst, bist Du andauernd hier. Nur tagsüber rast die Zeit einfach zu sehr. Da sind wohl zu viele da, um sie zu besuchen.“

Jetzt, wo Du es ausgesprochen hast, führt wohl kein Weg mehr dran vorbei. Mir zu sagen, dass ich schon ziemlich genau weiß, wo wir uns befinden.
Ist halt nicht immer leicht hier.
Wer hat das grad gesagt, Du oder ich?

„Ich vermisse sie sehr“, sage ich leise.

„Ich weiß. Aber Du wirst schon einen guten Grund gehabt haben, warum Du Dich von ihnen getrennt hast.“

„Manche sind auch einfach so gegangen.“

„Vielleicht hast Du sie nicht festgehalten.“

Ob das wohl etwas gebracht hätte, ich weiß es nicht, aber ich spreche meine Zweifel nicht aus.

„Schau mal diesen Stein an, den dunklen gedrängten.“

Ach ja, ich weiß schon, was sich dahinter verbirgt. Diese Angst…. Bitte bleibe. Ich beiße die Zähne fest aufeinander, damit mir nicht dir Tränen kommen, nein jetzt bitte nicht.

„Aber ich habe doch immer noch Angst“, sage ich stattdessen und drehe mich schnell zu Dir um.

„Diese Angst?“, fragst Du mich zweifelnd und deutest dann auf einen anderen Stein.
„Schade, dass Du das verloren hast.“

Auch dieser Stein ist klein, er hat fast etwas Kindliches. Und ein Gewächs mit kleinen gelben Blümchen rankt sich zärtlich darum. Ich knie davor nieder, mit gesenktem Kopf, als wollte ich mich verneigen. Das naive Vertrauen.
Ich ahne nicht, dass Du vielleicht nicht immer ehrlich zu mir bist …

Schade. Aber das ist vorbei. Diesen Verlust müssen wahrscheinlich viele Menschen im Laufe ihres Lebens hinnehmen. Ich streife sanft mit dem Zeigefinder über den Stein und richte mich auf, mir schwindelt leicht.

„Sind sie wirklich alle tot?“ frage ich Dich, leicht verzweifelt. (Wird diese Verzweiflung hier auch noch ihren Platz finden?)

„Vielleicht nur begraben“, höre ich Dich sagen.

„Du bist doch öfters hier, wenn Du schläfst, schon vergessen? Dann lass uns schauen, ob wir einen Spaten finden!“

Jetzt, wo ich das erste Mal ganz bewusst hier bin, bin ich wild entschlossen. Sie gehören alle zu mir, alle, so unzählbar viele Steine …

Du antwortest nicht. Dein Blick sagt alles. Dann lächelst Du leicht.

„Und schau mal, dafür gibt es ja diesen Ort. Damit Du immer wieder hierher zurückkehren kannst.“

„Aber das ist doch nicht dasselbe!“, werfe ich trotzig ein. „Sie zu haben, sie in meinen Händen zu halten, sie zu umarmen, von ihnen getragen zu werden …“

„Manchmal haben sie Dir auch ganz schön wehgetan.“

„Na und? Ich will sie wieder bei mir haben, am besten alle gleichzeitig. Und für immer.“

„Es werden neue kommen.“

„Nicht dieselben.“

„Nein, nicht dieselben.“

Dann legst Du mir sanft die Hand auf die Schulter. Ja, ich beruhige mich ja schon wieder. Ich versuche es. Nichts anderes tue ich schließlich jeden Tag.

„Es gibt diesen Ort, damit Du immer wieder herkommen kannst. Erinnerung ist etwas, dass Du nicht unterschätzen solltest. Du kannst sie betrachten. Und ja, zu einigen, wenn Du es möchtest, kannst Du Dich ein Momentchen legen. Um dann stehst Du auf und gehst. Und bist bereit für die, die noch kommen. Vielleicht kommt mal einer, den Du ganz lange und fest bei der Hand halten kannst.“

Ja, okay. Ich löse mich von Dir und gehe ein paar Schritte weiter. Oh, die prickelnde Aufgeregtheit.

Und dort liegt die brennende Eifersucht. Vor einem Stein bleibe ich etwas länger stehen: das erdrückende Schuldgefühl. Und dann weiter gehen, wieder weiter.

Jetzt habe ich den Stein gefunden, den ich gesucht habe. Bin ich vielleicht extra deswegen her gekommen? Keine Ahnung. Aber jetzt tue ich einfach, genau das, was Du gesagt hast, kauere mich neben den Stein auf die Erde, rolle mich ganz klein zusammen. Nicht zu fassen, selbst jetzt fühlt er sich noch warm an. Die Inschrift darauf brauche ich gar nicht erst zu lesen. Das ist der Stein.

Irgendwann ist es Zeit zu gehen. Ich stehe auf und lasse auch das warme Gefühl, geliebt zu werden hinter mir.
Ich nehme Dich bei der Hand.

„Komm, lass uns gehen. Du hast vielleicht auch einen solchen Ort.“

Und ja, es gibt ihn, und sie sind alle, alle noch dort. Warten auf mich. Aber Du hast recht gehabt, es werden andere kommen. Nie wieder dieselben, aber vielleicht welche, die ganz ähnlich sind.
Also gehen wir und warten dann auf dieses Eine, Besondere, das wir ganz lange und fest bei der Hand halten werden.

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