Stille Gebete
von Beate Fischer
422. Sonntag
Lieber Gott, Peter ist mein bester Freund. Wir teilen uns alles. Unsere Vesperbrote, unsere Radiergummis und unsere Regenschirme. Wenn wir am Wochenende bei ihm oder bei mir übernachten, schlafen wir zusammen im Bett. Das ist sehr schön. Manchmal ärgert mich die Lena. Sie nimmt mir meinen Füller weg oder stellt mir ein Bein. Dann hilft mir der Peter. Zusammen sind wir stärker. Bitte schütze den Peter vor allem Bösen und mach, dass wir Freunde bleiben.
690. Sonntag
Gott, meine Mutter ist doof. Ich hasse sie, auch wenn ich das nicht soll. Sie hat mir verboten, mich mit Peter zu treffen, weil ich mich nach dem letzten Mal übergeben habe. Wir haben nur ein bisschen geraucht und Bier getrunken. Das machen doch alle. Kannst du sie nicht außer Gefecht setzen, bis ich erwachsen bin und ausziehen kann? Das würde ich dir nie vergessen.
691. Sonntag
Mein Gott, was habe ich getan? Was hast du getan? Ich habe nicht gedacht, dass du mich so ernst nehmen würdest. Ich war halt wütend auf meine Mutter. Aber deshalb musst du sie doch nicht gleich mit einem Autounfall strafen. Jetzt liegt sie im Koma. Bitte mach, dass sie wieder aufwacht. Ohne sie bin ich aufgeschmissen. Bitte!
692. Sonntag
Danke, lieber Gott. Meiner Mutter geht es schon besser. Sie muss noch eine ganze Weile im Krankenhaus bleiben, aber es wird alles gut werden. Ich habe mich bei ihr entschuldigt, und sie hat mich ganz komisch angeschaut. Sie hat gesagt, dass ich wieder zu Peter darf. Dass sie es nicht so gemeint hat. Oh Mann, ich bin so erleichtert, und ich verspreche dir, dass ich niemandem mehr etwas Schlechtes wünschen werde. Aber mit Peter ist es trotzdem vorbei, er hat eine Freundin.
961. Sonntag
Die Abschlussfeier war schön, Gott. Jetzt bin ich Gärtnergeselle. Ich hege und pflege deine Schöpfung und passe auf sie auf. Sandra werde ich vermissen. Sie ist zwar ein paar Jahre älter als ich und hat das Abitur, aber das stört mich nicht. Wir haben fast drei Jahre zusammen die Schulbank gedrückt. Sie wird jetzt erst einmal nach England gehen. Dort gibt es besonders interessante Gärten. Vielleicht besuche ich sie dort. Sie hat mir ihre Telefonnummer und ihre Adresse gegeben. Ich mag sie richtig gerne. Vielleicht kannst du ja dafür sorgen, dass sie mich auch gerne mag? Ich sag schon mal ‚Danke!‘ und einen gesegneten Sonntag noch.
1.218. Sonntag
Ich danke dir, Herr, dass du mich in Sandras Familie geführt hast. Alle sind dort so herzlich und eng verbunden. Ganz anders als bei uns, wo meine Mutter immer etwas zu meckern hat. In ein paar Wochen werden Sandra, ihr Bruder Tobi und ich zelten fahren. Tobi ist sechzehn, hat seinen Schulabschluss gemacht und wird danach für die Ausbildung in eine andere Stadt ziehen. Ich weiß schon jetzt, dass ich ihn vermissen werde. Er ist Sandra so ähnlich. Letzten Sonntag hat mich Sandra zum Abschied geküsst und ganz fest umarmt. Ob sie mich beim Zelten noch ein bisschen näherkommen lässt? Ich traue mich nicht, zu fragen. Die wenigen Erfahrungen, die ich bisher mit Mädchen gemacht habe, waren nicht gerade angenehm. Die haben mich ausgelacht, weil ich mich so ungeschickt angestellt habe. Zumindest hat mir das eine von ihnen erzählt. Ganz höhnisch haben sie mich angeschaut und mit ihren Freundinnen gekichert. Aber Sandra ist anders, sie würde das niemals tun. Ich träume immer öfter von ihr. Du musst dir keine Sorgen machen, die Bilder im Traum sind ganz züchtig.
1.225 Sonntag
Bitte vergib mir, ich habe gesündigt. Aber ich kann nichts dafür. Vorhin stand Tobi ganz nackt unter der Dusche auf dem Zeltplatz. Mein Körper hat von ganz alleine auf ihn reagiert, ich konnte es nicht verhindern. Als er mich gebeten hat, ihm den Rücken einzuseifen, wusste ich nicht, was ich tun sollte. Man schlägt einem Freund doch keine Bitte ab. Dann hat er sich plötzlich umgedreht und mich angefasst. Du weißt schon, wo. Das hat sich ungewohnt angefühlt, aber irgendwie auch ziemlich gut, doch plötzlich kamen ein paar Leute herein. Er hat mich ganz schnell wieder losgelassen, und ich habe mich ins mein Handtuch gewickelt und bin weggerannt. Das ist doch total verdreht. Ich mag ihn zwar, aber doch nicht so! Ich bin mit seiner Schwester zusammen. Gestern Abend ist sie in meinen Schlafsack gekrochen, und wir haben uns eine Weile gestreichelt, bevor wir eingeschlafen sind. Was soll ich denn nur tun?
1.226 Sonntag
Endlich wieder zu Hause, nur hier in dieser Kirche fühle ich mich dir richtig nah. Ich glaube, du kannst mich hier auch besser verstehen. Tobi hat sich beim Zelten mit ein paar Jungs angefreundet und ist mit ihnen herumgezogen. Dabei habe ich mich fast ein wenig verlassen gefühlt. Aber wenn ich mit Sandra alleine war, hat sie Sachen mit mir gemacht, die ich hier nicht einmal denken möchte. Sie war sehr behutsam und geduldig, als es bei mir nicht gleich geklappt hat. Am Ende war es für uns beide sehr schön. Sie hat gesagt, dass sie es sehr mag, dass ich so schüchtern bin. Sie findet mich total süß. Manchmal hat sich dabei Tobi in meine Gedanken geschlichen. Die beiden sind auch fast wie Zwillinge. Die Augen, die Haare und diese beiden Grübchen an der Wirbelsäule direkt über dem Po. Sandra ist für mich genau die Richtige. Ich danke dir, dass ich sie kennenlernen durfte.
1.235 Sonntag
Ich bin jetzt fest mit Sandra zusammen, und wir haben einen Plan: Wenn mein Chef in vier Jahren in Rente geht, wollen wir den Betrieb übernehmen. Er ist sehr zufrieden mit mir und hat angeboten, mir die Meisterschule zu bezahlen. Sandra hat angefangen, Gartenbau zu studieren, und wird bis dahin auch fast fertig sein. Ist das nicht eine großartige Idee? Ich bin sicher, du wirst uns dabei unterstützen.
1.280 Sonntag
Wir haben uns verlobt! Es war ein tolles Fest. Tobi ist extra die zweihundert Kilometer angereist, um mit uns zu feiern. Er hat sich prächtig entwickelt. Seine Freundin ist allerdings eine kleine, vorlaute Göre. Aber das hat mich gestern überhaupt nicht gestört. Ich war nur froh, dass alle dabei sein konnten, die wir eingeladen haben.
Jetzt suchen wir uns eine Wohnung und ziehen zusammen. Ich bin schon ziemlich aufgeregt. Danke, dass es gerade so gut läuft. Da hast du bestimmt auch deine Hand im Spiel.
1.322 Sonntag
Tobi hat seine Ausbildung geschmissen und ist bei uns eingezogen, weil er mit seinen Eltern einen Riesenstreit deswegen hatte. Er schläft in unserem winzigen Arbeitszimmer. Und das jetzt, wo ich für meine Meisterprüfung lernen muss. Sandra ist mit ihren Klausuren auch ganz schön im Stress. Sie mag zwar ihren Bruder gerne, aber seit er bei uns rumhängt, geht sie oft in die Bibliothek, um ihre Ruhe zu haben. Er macht sich ganz schön breit. Aber ich will nicht jammern. Er hat eine schwere Zeit. In seinem Alter war ich auch manchmal total verwirrt. Ich hoffe, er fängt sich wieder. Sandra hat schon mit seinem Ausbildungsbetrieb telefoniert und ausgehandelt, dass er nach den Sommerferien wieder einsteigen könnte, wenn er es sich noch einmal überlegt.eider trinkt er ziemlich viel. Als ich vorhin losgegangen bin, lag er angezogen und nach Alkohol stinkend auf dem Sofa. Vielleicht sollte ich ihn mal mitbringen? Du kannst ihm sicher helfen.
1.323 Sonntag
Oh Gott, ich habe eine furchtbare Nacht hinter mir. Wir mussten Tobi in die Notaufnahme bringen. Er hat irgend so ein Zeug geschluckt und ist dann bewusstlos geworden. Jetzt ist er zwar über den Berg, aber wir wissen nicht, wie es mit ihm weitergehen soll. Wenigstens wollen sich seine Eltern wieder mit ihm vertragen. Vielleicht kann er wieder zu ihnen nach Hause ziehen. Danke, auf jeden Fall, dass du ihn nicht zu dir genommen hast.
1.324 Sonntag
Tobi will bei uns bleiben. Wenigstens noch ein paar Wochen. Er folgt mir jetzt auf Schritt und Tritt. Will dies von mir und das. Ich soll ihm die Schultern massieren, mit ihm Spazieren gehen oder ihm sein Lieblingsessen kochen. Sandra steckt mitten in ihren Klausuren. Wir sehen sie seit Tagen fast nicht mehr. Meistens geht sie zum Lernen zu einem Kommilitonen. Ich will sie nicht damit belasten, aber ich komme selbst zu überhaupt nichts mehr. Und außerdem ist Tobi manchmal so komisch. Er lässt die Tür beim Duschen offen, springt nackt durch die Wohnung oder fragt mich, ob ich mich zu ihm legen kann, bis er eingeschlafen ist. Ich kann ihm das nicht abschlagen, aber ich fühle mich ziemlich seltsam dabei. Mein Körper sendet mir Signale, die ich kaum ignorieren kann. Ich fühle mich zu Tobi hingezogen, obwohl ich weiß, dass das falsch ist. Was soll ich nur tun?
1.325 Sonntag
Gerechter Gott, stehst du mir noch bei, wenn sie mich gleich holen kommen? Sie wissen, wo ich bin. Schließlich findet man mich fast mein ganzes Leben jeden Sonntag hier.
Die letzten Tage hat mich Tobi vollends in seinen Bann gezogen. Er hat mich angefasst und ich ihn. Es hat sich so richtig und gleichzeitig so falsch angefühlt. Gestern Abend sind wir zusammen eingeschlafen. Eng aneinander gekuschelt. Nackt. Und genauso hat uns Sandra heute Morgen angetroffen, als sie nach Hause gekommen ist. Sie hat uns angestarrt. Dann hat sie angefangen zu lachen. Böse und gemein. Wie die Mädchen in meiner Schulzeit. Ich wusste doch, dass mit dir was nicht stimmt, hat sie gesagt, du hast es beim Sex nie gebracht. Aber dass du dich an meinen kleinen Bruder ranmachen musst, ist schon mies. Ist der besser im Bett als ich? Sie war ziemlich angetrunken und hat immer weiter gestänkert. Da bin ich zornig geworden und habe ihr den Mund zugehalten. Irgendwie hat sie das Gleichgewicht verloren und ist gestolpert. Plötzlich lag sie auf dem Boden, ich auf ihr drauf, meine Hände an ihrem Hals. Und ich habe zugedrückt. Tobi saß auf der Bettkante und hat mich angefeuert. Wie konnte er das nur tun? Als Sandra sich nicht mehr bewegt hat, habe ich ihn gestoßen. Darauf war er nicht gefasst. Sein Kopf schlug auf die Kante der Heizung, als er fiel, und dann war da ganz viel Blut. Ich weiß nicht, wie es dazu kommen konnte. Bleibst du bei mir? Wie immer? Für immer?
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