Tascheninflation beim letzten Hemd
Die Hitze flirrte unkontrolliert. Die Kehle von Schwester Willibaldis war staubtrocken. Ihre Gedanken kreisten stetig um ein kühles Getränk, doch sie hatte diesen Job zu erledigen.
Zehn Meter vor ihr schlenderte ein großer, hagerer Mann mit Halbglatze, umrahmt von dunkelblonden Löckchen. Ein Bild für Götter. Seine Kleidung war wirklich unauffällig, Jeans und ein weißes T-Shirt. Sie war aufgekratzt wie ein juckender Mückenstich und hoffte, dass jetzt nicht Schwester Oberin anrufen würde. Dies war nicht ein extrem günstiger Augenblick, um mit Schwester Oberin über ihre Pflichten als Nonne zu reden. Sie müsste sich dann unendliche Monologe über ihre ungehörigen Kontakte anhören. Zum Glück wusste Schwester Oberin nichts von Jan Procházka. Aber anscheinend ahnte sie Heimlichkeiten, sonst würde sie doch nicht gefühlt ständig sie auf dem Handy anrufen, wenn sie Ausgang hatte. Das waren Momente, in denen sie ihre Berufung gar nicht mochte, wenn nicht sogar verwünschte.
Das Bild für Götter bog ruckartig rechts um die Ecke. Sie tippte Jan eine schnelle WhatsApp-Nachricht.
Bin ihm auf den Fersen. Melde mich gleich wieder.
Als sie den Senden-Button drückte, bog sie ebenfalls ganz scharf rechts um die Ecke und blickte direkt in die kornblumenblauen Augen des Typen, auch wenn er sie einen halben Kopf überragte. Herausfordernd stand er vor ihr und brummte sie an.
„Na, kleiner Spaziergang?“
Schwester Willibaldis‘ Kopfbeleuchtung aktivierte sich spontan.
Er ging einen viel zu großen Schritt auf sie zu. Sie konnte seinen bierlastigen Atem riechen.
„Raus mit der Sprache. Warum verfolgt mich eine Nonne?“
Er scannte sie. Sie zupfte verlegen an ihrem dunkelblauen Kleid und rückte ihre dunkelblaue Haube zurecht, die ihr filigranes Gesicht wie ein wertvolles Passepartout umrahmte. Gefährliche glasklare grüne Augen fixierten ihn. Sie sah ihm an, dass er überlegte, ob er diese Situation gut finden sollte. Sie friemelte in ihren Kleidtasche. Irgendwo musste doch Jans Visitenkarte sein. Erleichtert und mutig zugleich streckte sie ihm die Visitenkarte entgegen. Er griff gierig danach.
„Eine Nonne als Erbenermittler? Ich glaube, das stinkt gewaltig zum Himmel.“
Er lachte über seinen eigenen Witz. Sie verzog ihren Mund.
„Nein, Sie…“
In diesem denkwürdigen Moment klingelte ihr Handy. Mit einem gehauchten Stöhnen nahm sie das Gespräch an.
„Ja, ach so, nein, Schwester Oberin. Warum? Sollte ich? Nein, nicht, was Sie denken. Auf jeden Fall. Ich habe verstanden.“
Mit einem Auge schielte sie zum Typen. Er drehte sich frech um und raste zur Hauptstraße zurück. Sie verwünschte diese Telefonate. Aber das Gespräch mit Schwester Oberin abzubrechen, hieß drei Morgengebete extra für drei Wochen.
„Ja, natürlich. Ich kann Sie verstehen, aber ich muss jetzt wirklich was trinken. Nein, nichts Alkoholisches, wo denken Sie hin. Ja, bis um 19 Uhr. Geht in Ordnung, Schwester Oberin. Tschüs.“
Als Schwester Willibaldis auflegte, war der Typ nicht mehr in Sichtweite. Na toll, die ganze Mühe umsonst. Sie musste Jan dringend informieren. Eine neue Taktik war gefragt.
Jan und Schwester Willibaldis hatten sich für 17 Uhr in der Erzberger Straße 77 verabredet. Sie wartete direkt vor dem gelben Mehrfamilienhaus. Ihr Herz machte einen kleinen Sprung, als sie Jan in seinem schwarzen Austin Mini heranrauschen sah. Er parkte aus taktischen Gründen zwei Häuser vorher an der Straße.
Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Ihr gefiel seine schwarze Lockenmähne und seine tiefgründigen, dunkelbraunen Augen. Sie dachte an ihr erstes Treffen in einer Tanzbar. Er hatte damals eine Tür eingetreten, um eine erbberechtigte Bauchtänzerin zu informieren. Sie hatte damals Angst vor ihm, aber sie hatte im Hinterkopf, dass sie im Notfall Judo anwenden konnte. Sie vertraute ihm dann doch nach einem Small Talk und führte ihn zu der Erbberechtigten, die sich in einer Gartenlaube aufhielt. Nach einem kleinen Kampf mit einem Geldeintreiber, den sie überwältigen konnte, entpuppte sich die Bauchtänzerin als ehemalige Finanzbeamtin und glückliche Erbin von zwanzigtausend Euro eines unbekannten Onkels in Frankfurt.
Jan kam in eleganten Schritten, verspielt wie ein Tänzer, auf sie zu. Er grinste unverschämt und atmete tief ein.
„Willibaldis, schön, Sie zu sehen. Wir können starten. Folgen Sie mir unauffällig.“
Sie betraten ein Treppenhaus aus weißem Marmor. Jan pfiff anerkennend durch die Zähne.
„Scheint ’ne noble Bude zu sein. Sah von außen anders aus.“
Sie stiegen die Treppenstufen bis zum zweiten Stock empor. „Kempenlüke“ stand auf dem Schild neben der Türklingel. Jan drückte kraftvoll auf die Klingel. Die Klingel durchdrang die Stille wie ein Hilferuf.
Im Inneren der Wohnung hörten sie schnelle, polternde Schritte. Als sie verhallt waren, klopfte
Jan mit der ganzen Faust an der weißen Holztür. Er bemerkte einen Türspion.
„Herr Kempenlüke, hier ist Jan Procházka, Erbenermittler. Ich komme wegen einer Erbschaft vorbei.“
Eine wütende Stimme dröhnte hinter der Tür.
„Sie sind Betrüger. Sie und Ihre Nonne. Und ich weiß von keinem Menschen, von dem ich noch etwas erben könnte. Meine Mutter ist letztes Jahr gestorben, und sie hatte keine Geschwister.“
Schwester Willibaldis pirschte sich zur Tür und hauchte ihre Worte durch diese hölzerne Grenze.
„Herr Kempenlüke, auch Nonnen können einen Nebenjob haben. Bitte glauben Sie uns.“
Herr Kempenlüke räusperte sich ein paar Mal, bevor er seine Worte bellte.
„Ich fühlte mich schon heute Mittag bedrängt.“
Nach einer kurzen Pause rülpste er seine Sätze heraus.
„Aber dass Sie mich auch noch zu Hause bedrängen, finde ich unverschämt. Eigentlich müsste ich die Polizei holen.“
Jan nickte Schwester Willibaldis zu und gab ihr den Brief des Nachlassgerichts. Sie bückte sich elegant und Jans Blicke klebten an ihr, als sie den Brief unter der Tür durchquetschte.
„Herr Kempenlüke, wir sind keine Betrüger. Ich habe Ihnen den Brief vom Nachlassgericht unter der Tür durchgeschoben.“
Schwester Willibaldis schnellte wieder nach oben und blickte erwartungsvoll zu Jan.
Ein lauter Lacher jenseits der Tür unterbrach diesen innigen Blickkontakt zwischen Jan und ihr.
„Ha, mein Bruder, der unehelich war, ist gestorben? Das glaube ich nie im Leben. Meine Mutter hätte mir das erzählt.“
Schwester Willibaldis schleuderte die Sätze wie bei einem Tennismatch dem Typen entgegen.
„Manche Familiengeheimisse kommen nie oder spät ans Licht, Herr Kempenlüke. Aber wenn Sie das Erbe nicht annehmen, bekommt es der Staat.“
Jan und Schwester Willibaldis hörten, wie der Schlüssel im Schloss umgedreht wurde. Die Tür öffnete sich gruselig langsam. Ein grinsender Herr Kempenlüke stand vor ihnen und winkte einladend mit einer Hand.
„Der Brief scheint echt zu sein. Kommen Sie doch herein.“
Das Wohnzimmer war überraschend geschmackvoll in Schwarz und Weiß dekoriert – weiße Wände sowie schwarze und weiße Möbel. Jan ließ sich auf das schwarze Stoffsofa plumpsen. Schwester Willibaldis setzte sich betont langsam neben ihn. Sie konnte sein Patchouli-Parfüm riechen. Ihr Puls erhöhte sich automatisch. Ihre Augenlider flackerten nervös, als sie Herrn Kempenlüke anschaute.
„Wir wissen, dass wir ungelegen kommen.“
Herr Kempenlüke nahm auf einem schwarzen Holzstuhl ihnen direkt gegenüber Platz.
„Sind Sie wirklich sicher, dass Heinz mein Bruder war? Wer war er und wo wohnte er?“
Ihr Magen gluckerte, als sie ihm die Information präsentierte.
„Heinz war Buchhändler im Hafenviertel und wohnte nur zwei Kilometer von hier entfernt.“
Sie registrierte, wie die Rädchen in Herrn Kempenlükes Gehirn ratterten. Er stand abrupt auf und eilte zum Bücherregal. Er zog an einem Buchrücken und hielt ihr das Buch vor die Nase. Seine Augen waren vor Erstaunen geweitet.
„Das ist unglaublich. Ich habe ihn gekannt. Aber ich hätte nie gedacht, dass er mein Bruder ist. Aber ich fühlte eine tiefe Verbundenheit mit ihm.“
Herr Kempenlüke streichelte das Buch wie einen Kater.
„Dieses Buch empfahl er mir.“
Herr Kempenlüke schluckte, Tränen standen ihm in den Augen.
„Es geht um zwei Brüder, die sich streiten und deren Wege sich trennen. Sie finden sich an ihrem Lebensende wieder.“
Eine Träne rollte über seine Wange. Schwester Willibaldis griff in ihre rechte Kleidtasche und reichte ihm ein Stoff-Taschentuch mit den aufgestickten Initialen von Schwester Oberin. Er nickte dankend und tupfte die Tränen ab.
„Ich habe zwar meinen Bruder verloren. Aber ich habe ihn gekannt. Das ist ein wertvolleres Erbe, wissen Sie.“
Er griff nach dem Brief des Nachlassgerichtes und unterschrieb schwer atmend. Eine schöne Handschrift mit klaren Schwüngen.
Jan strahlte sie stolz an, und ihre Augen leuchteten.
In solchen Momenten liebte Schwester Willibaldis diesen Job, egal, was Schwester Oberin wegen ihrer vielen Ausgänge androhte. Sie wird es nie erfahren, nie. Das schwor sie sich.
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