Tauwetter in den 60iger Jahren des vorherigen Jahrhunderts
DMYTRO PAVLYČKO
Zwei Farben
Als ich jung war im Frühling und mich aufmachte,
Die Welt auf unbekannten Wegen zu bereisen,
Stickte mir die Mutter ein Hemd
Mit roten und schwarzen Fäden.
Meine zwei Farben, zwei Farben,
beide auf dem Leinenstoff, in meiner Seele beide,
Meine zwei Farben, zwei Farben:
Rot – das ist die Liebe und Schwarz – das ist die Trauer.
Das Leben führt mich in die Irre
Doch ich kehrte auf meine Schwelle zurück,
Es verflochten sich, wie auf Mutters Stickerei,
Meine traurigen und frohen Wege.
Ich werde zum Greis,
Doch ich bringe nichts mit nach Hause,
Nur ein altes Stück Leinenstoff
Und darauf gestickt mein Leben.
Meine zwei Farben, zwei Farben,
Beide auf dem Leinen, in meiner Seele beide
Meine zwei Farben, zwei Farben:
Rot – das ist die Liebe und Schwarz – das ist die Trauer.
* * * * * *
Ich muss
Ich muss Bücher lesen,
Damit meine Augen nicht erblinden,
Ich muss sprechen,
Damit ich nicht aus Trauer verstumme,
Ich muss ein Lied hören,
Damit ich nicht vor Stille taub werde,
Ich muss mich verlieben,
Damit die Freude zu mir kommt,
Ich muss einen Freund sehen,
Damit mein Tag heller wird,
Ich muss ein Gedicht schreiben,
Damit mein Herz nicht zerreißt,
Ich muss arbeiten,
Damit ich mich für das Brot nicht schämen muss,
Ich muss um Mitternacht sterben,
Damit ich morgens wieder auferstehen kann!
* * *
Du bist der Regen. Und ich bin ein Ahorn.
Ich will dich mit meinen Blättern fassen.
Doch in der Krone, wie eingebildete Träume,
Verbleiben deine Tropfen nur einen Augenblick.
So dass meine Blätter wie Kerzen
Im Nebel durch dein Licht zu scheinen beginnen,
Du musst zweimal kommen:
Das erste Mal vom Himmel, das zweite Mal von der Erde.
* * * * * *
Kiev im Mai
Kiev im Mai
erhebt sich über seinen blühenden Kastanienbäumen,
die wie riesige Fallschirme wirken,
zum Himmel,
schwimmt über der Ukraine,
glänzt mit den Sternen seiner Kirchen um die Wette.
Fürsten, Metropoliten, Leibwächter,
KGB-Agenten, Dissidenten, rote Sklaven,
Akademiker, Deputierte, Barden, Dirnen,
kommen aus Gräbern, aus Gebäuden,
aus Unterführungen, aus Restaurants, aus der Metro,
nehmen sich an den Händen –
fürchten aus dem fliegenden Kiev herab zu fallen
in einen kosmischen Abgrund.
Die Liebe herrscht.
Doch die Blüte fällt,
die Fallschirme werden von den Kastanien zerrissen und verweht,
die Stadt lässt sich auf dem Boden nieder,
die Gebäude schließen sich,
die Restaurants, die Gräber, –
sie fühlen sich auf der Erde am besten.
Aber die Menschen nehmen sich hier nicht an den Händen,
sie gehen, verbergen ihre Augen voreinander
und die Blüte verfällt,
fällt herunter,
die Stadt lässt sich auf dem Boden nieder.
* * * * * *
Fotografien
Auf alten Fotografien,
auf denen ich noch so jung aussehe,
gibt es mich nicht.
Dort sind irgendwelche Menschen abgebildet, die mir ähnlich sehen,
aber ich bin nicht da.
Da sind
weder meine grauen Haare, noch Erschöpfung, noch Traurigkeit zu sehen.
Doch wo war das alles,
als ich fotografiert wurde?
Der Junge, der mich ansieht
von jenen Bildern,
weiß nicht, wie er zu mir sprechen kann.
Er
wendet sich so zart an mich: „Papa!“
Ich bin nicht dein Vater, mein Junge,
und du bist nicht mein Sohn.
Es ist wahr, wir trafen uns einst,
aber wann,
wo und weshalb,
daran erinnere ich mich nicht.
Ins Deutsche übertragen von Jutta Lindekugel im April 2009