Telefon für dich
Telefon für dich
Geschichte von Paul Wlaschek
– Iryna?
– Hallo Iryna, hörst du mich? Ah jetzt, ja.
– Nein, ich höre dich klar und deutlich. Die Leitungen scheinen sich dann seit heute Morgen verbessert zu haben. Mit Artem in Warschau ist die Verbindung auch nicht besser.
– Schon verrückt, wo alle jetzt so stecken. Ich habe in eurer Lebenszeichen-Liste gesehen, dass Lydia jetzt in Prag ist. Ist sie nicht ursprünglich nach Georgien gegangen?
– Wo bist du gerade? Bist du noch in Lwiw?
– In Kyiv? Seit wann? Ich meine …
– Warum bist du denn nach Kyiv zurück? Ist das nicht viel zu gefährlich? Wir hören hier in den Nachrichten jetzt wieder viel von Luftschlägen.
– Oh, das tut mir leid zu hören. Geht es ihr denn besser? Wie alt ist sie?
– In der Tiefgarage? Die ganze Zeit oder nur während Luftalarm? Könnt ihr sie denn immer hin- und hertransportieren?
– Ja klar, besser Tiefgarage als U-Bahn.
– Ich habe gestern mit Kostya gesprochen. Er macht immer einen so optimistischen Eindruck. Oder trotzig. Oder beides. Er sagt, er hat Matratzen vor die Fenster montiert, damit keine Glassplitter durch die Wohnung fliegen, wenn es Detonationswellen gibt. Er hat, glaube ich, kleine Kinder. Jetzt hat er sich nach der Installation seines Generators und der Zisterne noch einen Geigerzähler besorgt. Er geht ganz pragmatisch an die Sache, als würde er sich eine Gartenhütte bauen.
– Kannst du denn dann überhaupt arbeiten? Weißt du im Vorhinein in etwa, wann du Strom hast? Ich meine, klar der Laptop-Akku hält zwei, drei Stunden. Aber Netzwerk und so? Laufen eure Server noch?
– Ja klar. Mach dir deswegen keinen Kopf, das kann ich alles regeln. Hauptsache das Entwicklungssystem und das Testsystem sind noch für euch erreichbar.
– Du Iryna, zum Projekt: Wir haben am Anforderungsdokument einige Punkte geändert. Nichts Grundlegendes, nur etwas konkreter definiert. Ich schicke dir die letzte Version gleich per Mail.
– Nein, nichts Großes, echt nicht. Zum Beispiel Punkt Drei-Strich-Drei, da war die Zahl der Datensätze nicht konkret genannt. Wir glauben aber inzwischen, dass es ein Flaschenhals in der Performance werden könnte, und haben die Zahl explizit begrenzt.
– Genau, solche Sachen. Ihr müsstet demnach auch das Spezifikationsdokument entsprechen updaten. Aber in dieser Hinsicht seid ihr ja ohnehin vorbildlich.
– Die geänderten Stellen siehst du im Änderungsmodus.
– Mhm.
– Iryna, da ist noch etwas. Das ist mir jetzt … also das fällt mir wirklich unendlich schwer.
– …
– Also, unser Management hat entschieden, die Projekte mit euch zu stoppen.
– Ja, alle Projekte. Die Verträge sollen entsprechend der Kündigungsklausel abgewickelt werden.
– Nein, nein, Iryna, warte mal, ich …
– Iryna, warte mal bitte…
– Das hat überhaupt nichts mit der Qualität eurer Arbeit oder mit dem Preis zu tun. Das Management sieht das sogenannte Business-Risiko als zu hoch an.
– Ja, es erfolgen routinemäßig in bestimmten Abständen Bewertungen aller Projekte und auch eine Einschätzung der damit verbundenen Risiken. Das muss glaube ich auch in die Bilanzen, Rückstellungen und so, was weiß ich.
-Naja, angeblich bestehen unsere Kunden nach dem russischen Einmarsch darauf, dass ihre Daten nicht mehr in der Ukraine gehostet werden dürfen, nicht mal zu Testzwecken. Aber so wie ich das sehe, hat es in erster Linie mit der Liefersicherheit zu tun. Niemand weiß, ob die Russen euch, naja, ob die Russen euch morgen wegbomben.
– Iryna, ja, ja, ja, du …
– Ich weiß, ich weiß. Ich sehe das genauso wie du. Glaub mir, es fällt mir ganz und gar nicht leicht. Aber das Management hat nun mal diese Entscheidung getroffen. Vermutlich ist das auch einfach ihr Job.
– Iryna, ich habe doch versucht, denen das auszureden. Ich habe es wirklich versucht. Ich habe auch gesagt, dass die Arbeit an den Projekten und der damit verbundene Umsatz für euch eine seelische und finanzielle Unterstützung bedeutet.
– Na, sie sagen das natürlich nicht laut, aber glaub mir, es ist ihnen komplett egal. Die wollen nicht vor ihren Kunden dastehen und sagen müssen: Wir haben das nicht hingekriegt, wir waren zu naiv und haben nicht rechtzeitig die Projekte aus der Ukraine abgezogen.
– Ich weiß auch nicht. Vermutlich ist es das Beste, ihr arbeitet erst mal ganz normal weiter. Es ist ja noch nichts schriftlich fixiert, das dauert sicher noch ein, zwei Wochen. Dann sind da ja auch noch die Kündigungsfristen. Ich kenne die Verträge nicht. Ich wollte es dir aber schon mal persönlich …
– Ich finde, du solltest es nicht erst mit Erhalt des Kündigungsschreibens erfahren. Wir arbeiten doch schon so lange auf einer guten persönlichen Basis zusammen. Da ist es das Mindeste …
– Iryna, bist du noch da?
– Die Server werden sie umziehen, nach Deutschland oder Irland oder was weiß ich.
– Keine Ahnung. Ich vermute, es wird eine Übergabe geben. Ich weiß noch nicht an wen. Eventuell nach Polen oder zu den Serben. Aber die Übergabe wird bestimmt mehrere Monate dauern, so komplex wie das Produkt ist. Schwer vorstellbar, wie das ohne euch weitergehen soll.
– Iryna, weinst du?
– Iryna? Hallo …?
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