„The Naming“ oder „Das Grauen“
„The Naming“ oder „Das Grauen“
von Fatih Pulat
Wohlgemut geht man zur Arbeit und freut sich auf den ersten Kaffee, sprich, auf das erste und einzige Ziel, dass es am Vormittag zu erreichen gilt! Das zweite Ziel wäre der zweite Kaffee am Nachmittag, aber wir wollen doch schön Schritt für Schritt voranschreiten, bevor wir in der ganzen Betriebsamkeit noch ins Taumeln geraten.
Genüsslich rinnt das schwarze Gold die Kehle hinunter und bestätigt deinen Sinnesorganen, dass es sich doch wirklich lohnt, den Kaffee mit Omas alter hölzerner Kaffeemühle selbst zu mahlen. Schließlich bekommt man so die ersten 15 Minuten des Arbeitstages problemlos rum, und die Vorfreude auf den perfekt zubereiteten Kaffee wächst immens. Nun sitze ich kaffeerinnend vor den beiden 22Zoll-Bildschirmen und studiere lebenswichtige Mails in Outlook und überlebensnotwendige News im firmeneigenen Intranet. Der Puls ist unverändert an der gesundheitsfördernden Nulllinie. Nichts kann mich aus der Ruhe bringen. Nicht mal das an einen Gibbon erinnernde Gesicht des Chefs, da der frühestens gegen 10 Uhr durch sein Gehege streift.
Das Telefon klingelt, und einer der wenigen Kollegen, die Wahn von Sinn unterscheiden können, gibt folgende beängstigenden Navigationsdirektiven: „Schau ins Intranet: Flächenkonzept. Brauchst nix lesen, nur die PDF-Datei! „.
Wenn er in diesem Ton auf firmeninterne Mitteilungen hinweist, dann hat das angsteinflößende Folgen. Der Puls ist schlagartig auf 120: Da ist die besagte Nachricht!Sieht eigentlich ganz harmlos aus: Wolf im Schafspelz?
Ein weiterer Klick: Tausende von drolligen Buchstaben aneinandergereiht zu unsagbaren Auswüchsen der alltäglichen Langeweile psychisch verkümmerter Unternehmenskommunikationsexperten. Zur Vermeidung von Minutenschlafattacken untermalt mit einzelnen Fotos, die so ausdrucksvoll sind wie ein Kilo Quark im Schnee. Man muss sich vorstellen, dass wirklich ein Mitarbeiter mit hochpreisiger Digitalkamera bewaffnet durch das Gebäude geht, um eine Treppe, einen leeren Raum oder sogar ein Dach von oben in newtonscher Glanzleistung für immer auf digitales Zelluloid zu bannen.
„Bloß nicht den Text lesen! Bloß nicht den Text lesen!“ dämmert es durch meinen Frontlappen, so als würde ein Bombenentschärfer vor der Entscheidung stehen, nur nicht den falschen Draht zu kappen.
„Geschafft!“
Dank gekonnter Doppelklicktechnik ist die PDF offen, und plötzlich merke ich die Pulsader an meinem Hals hämmern und Hitze in meinem Körper ansteigen. Der Puls hat jetzt weiter Fahrt aufgenommen und ich wundere mich, was ein einziges Wort für eine Macht ausüben kann: „NAMING“.
Ich sitze gefühlte 5 Minuten vor einem Blatt, welches lediglich das hauseigene Firmenlogo oben links, das auf sehr teure akribische Spezialistenleistung hinweisende Firmenlogo der Unternehmensberatung unten rechts sowie das Wort „NAMING“ ausweist und ahne, in welche Abgründe des täglichen Schwachsinns ich hier gerade schlittere.
In einem ähnlichen gelagerten Fall hatte mal eine andere Führungskraft seine Internationalität und sein unsagbares Managementtalent mit folgendem Satz unter Beweis gestellt: „Wir müssen unser Wording überdenken!“
Umgangssprachlich würde vermutlich sogar der inzwischen integrierte Mehmet aus Neukölln sagen: „Hör auf Müll zu labern und sprich deutsch, du Esel!“
Besagte Führungskraft wollte damals furchtbar wichtig klingen und hat gedenglischt: Er wollte sagen, dass es besser wäre, wenn wir unsere Wortwahl / Ausdrucksweise überdenken würden, damit ein Dritter / Unbeteiligter auch wirklich verstehen kann, was wir sagen möchten.
NAMING!
Was für eine Glanzleistung ! Unser Unternehmen hat so viel mit internationalem Business zu tun wie der Tante-Emma-Laden von um die Ecke. Wir arbeiten ausschließlich regional, und unsere tägliche Arbeit erfordert so oft die Einbindung englischsprachiger Fachtermini, wie ein Kaktus in der Wüste Wasser benötigt. Aber gut: warum nicht einfach mal so richtig auf Harvard-geschulten Extremmanager machen? Kommt ja richtig gut an bei der Belegschaft, die Anglizismen immer noch für einen Pilzbefall im Sanitärbereich hält.
Wie dem auch sei. Die erste Seite hat also mit ihrem spartanischen Charme bereits Appetit auf „mehr“ gemacht, und, da ich gestern „Spinatsatt“ zum Abendessen hatte, fühle ich mich stark wie Popeye und blättere wagemutig auf Seite zwei.
Wie? Ein farbenfroher, langweiliger Grundriss unseres Gebäudes? Mehr nicht? Vermutlich ein Geniestreich moderner Kriegsführung, bei dem man den Gegner (hier den Leser) in absoluter Sicherheit wissen will, um ihn spätestens mit Seite drei kampfunfähig zu machen.
21, 22, 23 zählen, tief durchatmen, das Allerschlimmste erwarten (z.B. Kanzlerin Merkel in schwarzer Spitzenunterwäsche mit Peitsche, die sich mit der Zunge über die Oberlippe fährt) und umblättern.
Eins muss man den Kommunikationsexperten zusprechen: Die müssen Spielbergs Gene besitzen oder zumindest mal im ihm im gleichen Raum uriniert haben, denn die Spannung bleibt auf höchstem Niveau. Ich sehe den Ausschnitt eines Stadtplans, in dem unser Gebäude markiert und einige Ziele in der näheren Umgebung mittels hervorgehobenen Feldern beschriftet sowie farblich abgesetzt wurden. Die Achterbahnfahrt meiner körperlichen Reaktionen hat gerade eine kurze Pause eingelegt, so wie wenn dieselbe die erste Steigung erreicht, um dann mit maximalem Tempo in die Tiefe zu schießen, um dir deinen gesamten Mageninhalt nach außen zu befördern. An diesem Punkt angekommen sagt der geübte Achterbahnjunkie sich dann eh nur noch: „Ich komm hier ohnehin nicht mehr raus. Und wenn ich jetzt kotzen muss, kann ich es eh nicht verhindern!“
Seite vier übererfüllt dann alle Erwartungen/Befürchtungen, die sich die ganze Zeit schon wie Hyänen um das tote Aas geschlichen haben. Der von Seite zwei bekannte Grundriss wurde erneut aufgedruckt. Diesmal aber um farbliche Hervorhebungen ergänzt und mit prägnanten Namen an den neu geschaffenen Räumen verziert.
Extremste Visualisierung mit maximal einfacher Darstellung, damit es auch jeder Vollpfosten des proletarischen Mitarbeiterpacks mental greifen kann, dass hier gerade neue Räume „geboren“ wurden. Ein Ereignis wie wenn eine der weiblichen Vertreterinnen der Royals einen Nachkömmling austreibt und die ganze Welt in Aufruhr ist, als wäre der erste Mensch mit drei Köpfen geboren worden.
Unser Unternehmen hat die Wahnsinnsgeburt von Achtlingen gemeistert, und so einem Weltwunder muss man einfach huldigen, in dem man diesen acht zauberhaften „Kindern“ klanghafte Namen verpasst. Früher hätten diese 8 Räume sich einfach mit Ziffern versehen in die bereits bestehende Landschaft aus ca. 250 Räumen eingegliedert . geradlinig, logisch, stringent, konsequent und selbsterklärend.
Hätte man sich diesem Leichtsinn in einem schwachen Moment jedoch hingegeben, dann hätte die Nachwelt niemals gespürt, welche Manpower und vor allem wieviel mehr an Euro in dieses Wunderwerk planerischer Glanzleistung geflossen sind. Aber dank des kühnen und scharfsinnigen Vorgehens irgendwelcher Niederstromleuchtmittel in der Führungsriege können wir uns nun an Namen für die Räume erfreuen, die den klangvollen Zusatz „LOUNGE“ tragen. In einem überwiegend rot ausgeleuchtetem Etablissement vermutlich ziemlich passend, wenn das eine Zimmer „Champangner-Lounge“ und das andere „Erotik-Lounge“ getauft wird, um den Besucher bereits in Stimmung zu versetzen. Auch in einem Hotel ist solch eine Namensgebung ziemlich passend, wenn gut zahlende Kundschaft einen fünfstelligen Betrag hinblättern, um in der „Roosevelt-Lounge“ residieren zu dürfen.
Auf unser Unternehmen übertragen stelle ich mir nun die Frage, welche Assoziation der Kunde haben wird, wenn er in eine Lounge geladen wird, die sich an namhaften Gewässern orientiert:
(1) „Gleich steht Ihnen das Wasser bis zum Hals!“
(2) „Achtung: Land unter!“ oder
(3) „Wir kochen auch nur mit Wasser!“
Wie dem auch sei. Es wurde eine Heerschar an Mitarbeitern für dieses kreative Projekt beschäftigt, und die Unternehmensberatung hat für die kindergartenähnlichen vier Seiten vermutlich nicht ehrenamtlich gearbeitet. Im Ergebnis kann man konstatieren: Erfolg auf ganzer Strecke, glückliche Geburt…
Stolze Eltern bzw. Familienangehörige würden jetzt vermutlich tagelang feiern. Warum eigentlich nicht dem Vorstand vorschlagen, dass die Eröffnungen unserer Lounges doch eines opulenten Festes bedarf, bei dem angemessene Verköstigung, Musik und Minnesang dargeboten werden.
Ich glaube, dass es besser ist, solch einen hirnrissigen Vorschlag nicht zu unterbreiten, denn er ist dermaßen bescheuert, dass die Geschäftsleitung diesen vermutlich mit leuchtenden Augen auf Punkt 1 ihrer Prioritätenliste setzen würde.
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