Treibsand
Treibsand
von Katharina Klee
Morale, falls es diese Pluralform gibt, sind immer ärgerlich; die Wahrheit ist, es gibt keine Moral (weder im Singular noch im Plural). Wenn der Held am Ende über das Meer blickt, und ihm nach allem, was geschehen ist, der Sinn des Lebens klar wird, dann ist das nicht als eine Lüge. Was am Ende bleibt ist die normale Sinn- und Ziellosigkeit des Lebens: Vielleicht ist die Moral, dass es keine Moral gibt, ebenso wenig wie sprechende Tiere, die diese verkünden könnten; Möwen schreien nur Unsinn, sie machen nur Laute, die keiner versteht, vielleicht nicht einmal sie selbst.
Ich sehe etwa weder Moral noch Sinn darin, dass meine Mutter versucht hat, sich umzubringen. Ich kann daraus nichts ziehen als die Konsequenzen, die es nun mal hatte, das sind: meine eigene Verzweiflung, den steigenden Zigarettenpegel meines Vaters, oder dass mein Bruder für eine Zeit nur bei mir im Bett schlief, weil er Angst hatte, dass wir ihn auch verlassen würden.
Um Abstand zu bekommen, ist sie hochgezogen, ans Meer, weil es ihr gut tut, weil sie mehr rauskommt, weil Sonne wichtig ist fürs Glücklichsein. Vielleicht ist das die Moral, dass es an den Bergen zu viel regnet, als dass man glücklich sein könnte.
Ich gehe neben ihr am Strand entlang am Tag meines 18. Geburtstages, starre aufs Meer und fühle nichts, höre ihr auch nur halb zu, wie sie davon erzählt, dass es ihr schon viel besser geht, dass ihr die Luft hier so gut tut, etc.; ich glaube ihr auch nicht wirklich.
Ich denke an Sandburgen, die Max und ich gebaut und gestürzt haben, versuche, daraus Moral zu ziehen, etwa: alles ist vergänglich, alles wird zur Seite gespült, alles ist nur Sand, was nicht wirkt, weil ich mich ebenso daran erinnern kann, dass unsere Eltern uns gesagt haben, dass wir sie weiter weg vom Wasser bauen sollten, weil die Flut kommen würde; die Moral kann nicht sein, dass wir mehr auf unsere Eltern hätten hören sollen, wenn ich an meinen Vater denke, der sie anschreit, wie egoistisch sie ist, und sie zurück: Ich war mein ganzes Leben nicht egoistisch, zuerst habe ich für dich gelebt und dann für Max und Tilmann, schrei mich nicht an, und er schreit, und sie schreit, und Max sieht mich an, und wir machen uns stille Vorwürfe.
Ich erinnere mich, wie sie in mein Zimmer kommt und sagt, glaubst du, ich bin eine gute Mutter, und wie ich nicht wusste, was ich sagen sollte; ich hatte nie darüber nachgedacht, sie war die einzige Mutter, die ich hatte; ich sagte, denke schon.
Ich erinnere mich an den Anruf, von einem Hotel in der Stadt, nachdem wir uns drei Tage lang Sorgen gemacht hatten, wo sie war, aber sie verschwand oft, wegen ihrer Affäre manchmal, manchmal nur, weil sie verschwinden musste; am Telefon eine unbekannte Stimme. Nächstes Geräusch Wartezimmer in der Notaufnahme; zum ersten Mal das Gefühl, dass ich älter war als meine Mutter, als ich beschämt meinen Blick von ihren Handgelenken zu heben versuchte.
Ich erinnere mich an meinen Vater, der nervös in seiner Hosentasche nach seinem Feuerzeug kramt, und an den Besuch im Hotelzimmer, um ihr ihre Sachen ins Krankenhaus zu bringen. Ich erinnere mich an die Badewanne, die sie sauber gemacht hatten, aber in meinem Kopf war sie noch voller blutigem Wasser und rotem Schaum, der Körper meiner Mutter darin mehr schwebend denn schwimmend.
Ich spule zurück; versuche mir diesen Körper vorzustellen, der vor 18 Jahren im Morgengrauen meinen Bruder und mich im Abstand von zehn Minuten hervorbrachte; wie die alternden, heute rauen Hände das Hemd aufknöpfen, dieselben Hände, die uns beim Backen früher anleiteten, die uns fütterten; wie die beiden Beine sie ins Wasser tragen und sie eintaucht, einen Schluck Wein trinkt aus der Flasche, die sie neben der Wanne fanden, dann nach der Rasierklinge greift – wenn ich welche im Supermarkt sehe heute, zucke ich zusammen, sie kosten so wenig – ich frage mich, ob sie nervös war – weiter komme ich nicht mit den Gedanken, ich lande wieder bei ihr im Krankenhaus und weiß nicht, ob ich schuldig bin oder nicht; der Jurist, der mich verfolgt, bin ich selbst.
Du bist so naiv, hat Max mich angeschrien im Auto, und so stur, und ich wollte nicht weinen, aber ich denke, er hat Recht, vielleicht.
Treibsand heißt es, wenn Sandkörner den Kontakt zueinander verlieren, etwa durch äußere Erschütterungen, und sich dann verschieben; das passiert oft in der Nähe von Gewässern; man sinkt dann schneller ein, aber sterben wird man wahrscheinlich nicht. Es handelt sich um ein nichtnewtonsches Fluid, wie etwa Ketchup, der rot aus der Flasche fließt: erst fast nichts, dann alles auf einmal, und dann ist es viel zu viel. Blut ist auch ein nichtnewtonsches Fluid, und wenn man sich schneidet, dann dauert es daher ein wenig, bis man tatsächlich blutet; zunächst wird die Haut weiß, und dann wird alles um einen herum rot, das Wasser in der Badewanne wird konstant dunkler und der Körper darin müder, so stelle ich mir das vor, und aller Schaum geht mit der Zeit.
Meine Mutter berührt mich kurz am Arm, ich zucke zusammen.
Komm, wir gehen weiter; ich stehe am Meer, ich überlege, ob das die Moral ist, aber ich schaue weiter unberührt hinaus auf das Wasser, wie es nicht still steht, Sandburgen und Blut wegspült, sich immer weiter erhebt und senkt wie ein riesiger atmender, langsam lebender Körper, und ich spüre nichts.
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